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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 11 (Augustheft 1930)
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Rintelen, Friedrich: Goethes Italienische Reise: ein fragmentarisch aus dem Nachlass herausgegebener Vortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0335

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Tatsachen enchälk, die sich dort nicht finden, aber innerlich neben Goethes
Tiefsinn und Fülle der Erfassung vollkommen belanglos.

Als dann 1816 Goethes Ikalienische Reise erschien, gab es unter den
jungen romantischen Künstlern ein wahres Aufbäumen. Herzlos sei die
Schrift, nur zur Verherrlichung des Schreibers selbst abgefaßk, ohne allen
Sinn für Erhabenes und die Größe der Geschichte. Jn einem berühmten Be-
richt des großen Geschichtsschreibers lNiebuhr aus Rom haben wir die Kunde
davon, wie der Tiroler Koch verfluchte, und der Düsseldorfer Cornelius be-
weinte. Ein Wort sei mir hierüber noch erlaubt. Sie hörken, daß Goethe,
dessen weiche, nachgiebige Natur vonZuständen mehr als von Schicksalen zu
leiden gehabk hat, einem unerträglichen Zustand entfloh, als er nach Ikulien
ging, und daß er in Italien einem Zustand entgegenstrebke, der ihm das Leben
wieder wahrhaft lebenswert machen würde.

Eine solche Natur ist nicht uncmpfänglich für Geschichtliches, aber es wider-
strebt ihr, ein ganzes Land, das ihm ein Wunderland und eine Heilquelle isi,
geschichtlich zu betrachten, das Gegenwärtige gleichsam zerstörend, Perspek-
kiven in die Vergangenheit aufzureißen. Goethe empfindet die Macht der
Geschichte, die großen Prozesse des Vergehens und Werdens und die Tra-
dikionen, in denen Formen Beständigkeit gewinnen. 2lber er sucht die)e Rracht
nicht auf; nichts, was da ist, hat für ihn darum Wichtigkeit, weil es einmal
etwas anderes, vielleicht Höheres war und ehedem in großer Geltung stand.
Nuincn haben auf ihn gewirkt, aber sie haben seinen Gedanken nicht Nichtnng
gcgeben.

Er erblickt den venezianischen Senat mit hohem Entzücken: der geschmack-
volle Pomp, die Würde des Lebensalters und der Weisheik, die vor seinen
Augen vorüberziehen, haben es ihm angetan. 2lber er sieht darin — nach dem
Work Niebuhrs — nicht die Imago der alten Größe, sondern nur einen
Theakerzug. Wirklich, das Pathos ist ihm beim 2lnblick der Dogenprozession
ausgeblieben; aber war denn das, was er da sah, zehn Jahre, ehe es kläglich
endigen mußte, viel Besseres als ein Theaterzug — war es nicht bereiks
völlig macht- und inhaltlos? Sah Goethe nicht richtiger, nicht sogar hisiori-
scher als der Historiker, wenn er sich dadurch nicht zum Pakhos verführen ließ?
Vieles in Ikalien hat Goethe nicht gesehen, was schon die folgende Generation
zu dem Wichtigsten gerechnet hat. Sie machke ihm daraus einen schweren
Vorwurf. Wir denken heute darüber vielleicht gerechter. Wir wissen, daß
das 2luffassen von Formen und Bildern nicht einzig Sache des guken
2luges und des sicheren Urteils ist, sondern in hohem Grade von dem, was
uns als Gewohntes umgibt, abhängt. Der Mensch wird von Formen, die in
-rgend welchem Mißverhältnis zu dem stehen, was wir durch unsere Natur
und unsere Gewöhnung zu erwarten gezwungen sind, zurückgestoßen oder
gleichgülkig gelassen. Wenn Goethe sich für die primitive Kunst wenig inter-
essierke, so begreifen wir es, denn jene Formen waren noch nicht in den Gc-
sichkskreis des achtzehnten Jahrhunderts cingetreten, oder wenigstens waren sie
noch nicht so sehr Gemeingut, daß sie leicht und frei zu einem unvorbereiteten
Gemüt hätten reden können.

Man fühlt den romantischen Enthusiasten den Schmerz darüber nach, daß in
der Ikalienischen Reise die Kapelle der 2lnnunziata in Padua keine Erwäh-

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