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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 11 (Augustheft 1930)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0398

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wachsenden Bevölkerungsdruck von außen
anders als durch eine das Land rvirklich
ausfüllende Bauernschaft begegnen? Aber
damit siehk es übel aus.

Seit KriegSende sind in Ostdeutschland
etwa 2Z ooo Neusiedlungen geschafsen
worden, wovon etwa Bauerngüter
sind. Zugleich konnten 27 000 Siedlun-
gen durch Vergrößerung zur selbständigen
Ackernahrung erhoben und etwa zoooo
Landarbeiter seßhast gemacht werden.
Diese Zahlen sehcn gewiß recht stattlich
aus, und sie sind es auch, an der Tiefe
der deutschen Not in diesen Jahren ge-
messen. Aber sie erscheinen sast belang-
los, wenn man bedenkt, daß die Zahl der
Abgcwanderten durchschnittlich mehr als
daS Viersache der angesetzten Siedler be-
trägt. Die surchtbare Wirtschastsnot des
Ostens infolge der Grenzziehung, die rela-
tiv bedeutenden Jndustrielöhne deS We-
stens und der allgemeine Zug der Zeit
zum Stadtleben reichen sich hier die Hand,
um das Volk aus dem Osten abzusau-
gen. Und im Maße, in dem die bevölke-
rungsmäßige Jnnenspannung der deut-
schen Grenzen erschlasst, wächst die Span-
nung von außen. Von der Jnkensität und
Gcschwindigkeit, mit der die gesamten
Oststaaten Siedlung treiben, können wir
uns kaum einen Begriss machen. Allein
die polnische Siedlung schwankt zwischen
dem Füns- und Siebenfachen der deut-
schen Ostsiedlung, je nachdem man die
Siedlungsfläche oder die Zahl der Neu-
siedlungen betrachtet. Weiß man in
Dcutschland, daß Westpreußen gegen die
deutsche Mehrheit von vor dem Kriege
eine ganz erhebliche polnische eingetauscht
hat? Wie wird es um unsere Ansprüche
aussehen, wenn das noch einige Jahr-
zehnte so sortgeht?

Natürlich haben allc diese Oststaaten es
ziemlich einsach im Vergleiche zu Deutsch-
land. Sie haben keine Tribute zu zahlen,
ja erhalten noch aus dem Anleihewege
Geld aus den deutschen Tributen an
Frankreich. Sie haben auch Land, da
sie es den Fremdstämmigen, meist Deut-
schen, mehr oder minder entschädigungs-
los wegnehmen. Sie haben endlich die
Menschen, welche wir zwar heute auch
noch haben, aber vielleicht morgen nicht
mehr haben. Polen verzeichnet heute be-
reits einen den Deutschlands fast umü
Dreisache übersteigenden Bevölkerungs-
zuwachs, trotzdem dieses die doppelt grö-
ßere BevölkerungSzahl uud eine weit nieö-

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rigere Sterbezisser hat. Die Bevölke-
rungsdichte beträgk bis zum Dreifachen
Ostdeutschlands. So entsteht im Osten
eine gesährliche Lage. Die Nachfolge-
staaten einschließlich Tschechoslowakei
haben die großartige Parzellierungspoli-
tik Kriwoscheins sortgesetzt, und es ent-
stehen vom Eismeer bis an die Donau
eine Kette von Bauerndemokratien, deren
Bevölkerungsgesundheit, Wehrkrast und
Expansionswillen (keine Staatssorm ist
so expansiv wie die Bauerndemokratie)
Deutschland nichts Entsprechendes ent-
gegenzustellen hat. Etwa 200 000 selb-
ständige Neusiedlungen sind seit dem
Krieg zwischen Deutschland und Ruß-
land entstanden.

Was blcibt uns zu tun? Nur eines: die
Siedlung mit allen verfügbaren Mitteln
voranzutreiben. DaS Geld? Machte man
sich klar, daß es sich hier um d i e LebenS-
srage Deutschlands handelt, so müßten sich
da Wege sinden lassen. Es geht nicht
allein um außenpolitische Dinge, sondern
auch um das einzige Mittel, den Absturz
der deutschen Geburtenzisser, welcher in
wenigen Jahren zur Volksvcrminderung
mit allen ihren irreparablen Folgen süh-
ren wird, wirksam auszuhalten. DaS
Land? Es ist da, da der deutsche Groß-
grundbesitz großenteils vor dem Zusam-
mcnbruch steht. Man kann das bedauern
um der vielen prachtvollen Führergestal-
ten willen, die der ostdeutsche Großgrund-
bcsitz uns geschenkt hat. Aber in Deutsch-
lands surchtbarer Zwangslage ist keine
Wahl. Das rapide Sinken der Getreide-
prcise, die Frage der polnischen Wan-
dcrarbeiter, die sortschreikende Vernach-
lässigung und Entwertung des Bodens
insolge sortschreitendcn Kapitalmangels
und manchcs andere lassen hier staatliche
Ent- und UmschuldungSaktionen nur als
daS Schöpfen in ein Danaidenfaß er-
scheinen. Die Menschen? Noch sind sie
da, landlose nachgeborene Bauernsöhne,
die ihr Handwerk verstehen und sonst als
Kulturdünger nach Übersee abwandern.
Jetzt endlich hat man in bescheidenem
Rahmen begonnen, solches wertvolles
Siedlermaterial aus West- und Süd-
deutschland, zunächst aus Westsalen,
Franken und Württemberg, nach dem
Osten zu ziehen. Jm Verlage der Land-
buchhandlung zu Berlin erscheint eine
cigene Zeitschrist sür diese Bestrebung:
„Der Ostsiedler". Demnächst sollen an-
dere süddeutsche Gegenden miteinbezogen
 
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