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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 12 (Septemberheft 1930)
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Nötzel, Karl: Bücher über das neue Rußland, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0453

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tvar). Bessedotvsky ift nach der Oktoberrevoliitwn 1917 mit einem Teile seiner
Partei zu den Bolschewiken übergegangen, um mäßigend zu wirken, nnd dieses Buch
bedeutet natürlich auch eine nachträgliche Nechtfertigung dieses Schrittes. Nur ein
Mann, der gewöhnt ist, dem Tode inS Auge zu schauen, der so oder so mit dem
Leben abgeschlossen hat, kann es wagen, solche entsetzlichen Enthüllungen zu machen
über die terroristischen Pläne und Taten der mit der Sowjetbotschaft in Warschau —
wie mit jeder Sowjetbotschaft — verbundenen, wenn auch von ihr unabhängigen Ab-
teilung der kommunistischen Propaganöa: z. B. über die Sprengung der Warschauer
Zitadelle, wobe! ganz Warschau hätte bom Erdboden tveggefegt werden müssen,
wenn dieser Anschlag völlig gelungen wäre, ferner über öie Höllenmaschine in der
Kathedrale zu Sofia, die so entsetzlich viele unschuldige Opfer erforderte usw. An
Bessedowskys Aufrichtigkeit möchte ich, bei aller beabsichtigtcn Selbstrechtfertigung,
nicht zweifeln. Die praktische Bedeutung seines Buches liegt auch darin, daß wir die
leitenden Männer der Sowjetrepublik unter sich, gleichsam im Alltagsgewand, er-
leben. Damit bricht die alte Legende von dem obligatorischen Heroentum aller Diener
des BolschewiömuS zusammen. Die eiserne Konsequenz liegt im System und bei den
höchsten Spitzen. Sonst aber herrscht auch hier Menschliches-AllzumenschlicheS, und
es gibt, selbst in entscheidenden Dingen, Schwankungen, daß das Ergebnis oft wie
reiner Zufall anmutet. Hier bleibt für den Gefchichtöschreiber und den praktischen
Diplomaten außerordentlich viel zu lernen. Das Buch wird aber vor allcm deshalb
zu einem menschlichen Ookument ersten Ranges gestempelt, weil es in klassisch
einfacher Weise den Nachweis erbringt, daß der bolschewistische Terrorismus, der im
heutigen Rußland herrschende, nie dagewesene politische Massenmord unter Ausschal-
tung des wachen menschlichen Bewußtseins vor sich geht. Ein kurzes Gespräch zwi-
schen Bessedowöky und dem Leiter deö Kiewer Tscheka-Bezirks spricht Bände. Dieser
erzählt: im Anfang sei es ihm peinlich gewesen, ein Todeöurteil zu unterschreiben —
er habe sich immerhin noch vorgestellt, daß mit diesem Federzug ein Menschenleben
erledigt sei, heute erblicke er in dem TodeSurteil, das er untcrschreibe, nur noch ein
Stück Papier! Wohin sollke auch solche „Sentimentalität" heute führen, meinte der
Tschekist weiter, heute, wo ihm einfach von oben her befohlen werde, jedesmal einen
ganz bestimmten Prozentsatz der Angeklagten — er habe eben zoo Anklageakte vor
sich liegen — erschießen zu lassen. Er wühle dann nach dem Zufall. Er selber sei
bei keiner Hinrichtung zugegen — well er verrückt zu werden fürchte. Er wisse sehr
wohl, daß die Vollstrecker der von ihm unterschriebcnen Todesurteile sich jedcsmal
völlig betrinken und dazu auch noch Ikarkotika zu sich nehmen. Anders sei ja so etwas
gar nicht auszuführen. Freilich seien die Betresfenden bisweilen derartig betrunken,
daß sie schon aufeinander geschossen hätten. Trotz aller Narkotika hielten es die
bolschewistischen Henker nicht lange aus. Sie enden nach kurzer Zeit als Nerven-
zerrüttete — für die denn auch daS bolschewistische System gewisse Jnvalidenposten
vorgesehen habe. DaS alles mutet an wie ein unheimlicher Geisterspuk. Bessedowüky
und Scheffer nennen denn auch die G.P.U. (die Nachfolgerin der Tscheka) die ver-
rücktestc Behörde der Welt, da sie sich bis in ihre höchsten Stellen hinein selber be-
spitzele. „O wie schwach klingt doch die Stimme des Mörders!" sagt ein östlicher
Kirchenvater! Das gilt auch für den Bolfchewismus: wenn er uns von etwas über-
zeugen will — womit es ihm zweifellos ernst ist —, muß er uns erst sein Massen-
morden vergessen lassen.

Von fast gleicher Bedeutung für die endliche Enthüllung deS offiziellen bolschewisti-
schen Amoralismus ist das soeben im Verlag des Bibliographischen Jnstituts er-
schienenc Buch Paul Scheffer, „Sieben Jahre Sowjetunio n". Es bringt
im Hauptteil die 1921—29 im Berliner Tageblatt veröffentlichten Berichte und
Telegramme über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse Ruß-
lands. Diese Berichte sind — zumal bei der in Rußland herrschenden Zensur, deren

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