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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1930)
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Nötzel, Karl: Bücher über das neue Rußland, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0454

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volle Strenge wir erst hier crfahren — geradezn Meisterwerke: es wird in voller
gelstiger Würde, ohne irgendeine Sophisterei nahezu alles gesagt, was nötig ist, ohne
daß man der Zensur saßbar wird — eine Kunst, die übrigenS die russische Publizistik
während des ZarentumS aufs höchste entfaltete. Die rückhaltlosen Enthüllungen, die
Scheffer — nachdem ihm nunmehr die Rückkehr nach Rußland verweigert wurde —
im Nachwort bringt, stimmen durchauS zu diesen offiziellen Berichten, eS besteht an
keiner Stelle ein innerer Gegensatz. Nirgends erfuhren wir so Authentisches über
„das doppelte Geleise der russischen Politik", wie in diesem Nachwort: daß sie näm-
lich durch ihre osfiziellen Vertreter korrekte äußere Beziehungen zu den „bürgerlichen"
Ländern zu wahren bestrebt ist, während sie gleichzeitig durch inoffizielle Organe im
gleichen Lande rücksichtslose Propaganda treibt, zum Zwecke des UmsturzeS dieser
selben bürgerlichen Regierung.

Nur eine Probe: im Juli 192Z glaubte man Deutschland reif für die Räterepublik.
Als ernstestes Hindernis galt General Seeckt. Gin intimer Freund StalinS, Skobeleff,
unternahm zwei nur wie durch ein Wunder mißglückte Attentate auf Seeckt und
wurde verhaftet. Und nun las man plötzlich von der Festnahme dreier ausländischer
Studenten in Rußland: zweier Deutschen und eines Esten. Gründe erfuhr man nicht,
wohl aber, daß alle drei zum Tode verurteilt seien. Und da ergab es sich plötzlich,
daß es sich ganz einfach um ein Austauschgeschäft handelte: die zwei deutschen Stu-
denten sollten für Skobeleff auögeliefert werden — und das geschah dann auch nach
endlosen Derhandlungen! — Nun wäre freilich dieser praktische Amoralismus, dieser
zum Grundsatz erhobene Betrug als Berkehrsart der Sowjetregierung eine unabweiü-
bare Todesbedrohung für die ganze Kulturwelt, wenn nicht, wie Schesfer wiederum
überzeugend nachweist, die Unzulänglichkeit dieseS Systems sich schon zu Hause darin
offenbart, daß man tatsächlich alles erfahre, was hinter den dicken Kremlmauern vor
sich geht, und zwar durchaus nicht durch Geld, vielmehr aus Rache, da dieses Regiment
seine Mitarbeiter big aufs äußerste brutalisiere und verärgere.

Man sollte diesen Nachtrag gesondert herausgeben und in Millionen Eremplaren
kostenlos verbreiten!

Man kann Schesfer nicht dankbar genug sein, wesentlich auch deshalb, weil er, wie
mir scheint, mit der größten Klarheit und Gerechtigkeit unter allen Berichterstattern,
auch die großartigen, weitgesteckten und zweifellos ernstgemeinten Ziele hervorhebt,
um derentwillen all dieser furchtbare praktische Amoralismus und unerhörte Terro-
rismus geübt werden. Erst auf diesem Hintergrunde erhebt sich daS alles über
bloßes Banditentum und wird zu einem unerhörten tragischen Jrrtum. Seine Welt-
bedeutung liegt aber gerade darin, daß hier im Dienste von letzten Gesellschafts-
idealen und geübt mit allen erdenklichen Machtmitteln der Amoralismus den Nachweis
erbringen muß, ob und wie weit er irgendwie brauchbar ist zur Regelung der mensch-
lichen Gesellschaft — und das wird dann vor den Augen der ganzen Menschheit zu
seinem völligen Bankerott führen.

Der allgemeine Sinn der russischen Tragödie ist der: Als Lenin 1921 den „Nep",
die neue WirtschaftSordnung, einführte zur Ablösung des zur Katastrophe ausgear-
teten „Kriegskommunismus", wollte er eine Arbeitsteilung schasfen zwischen dem
sozialistischen Sektor in der Sowjetwirtfchaft (Jndustrie) und dem freien Sektor,
der vor allem in Handel und Landwirtschaft diejenigen Funktionen ausfüllen wollte,
die die sozialistische Organisation noch nicht auszufüllen vermochte. Diese Jdee Lenins
beruht auf der manchesterlichen Voraussetzung, es werde sich schon ein natürlicheS
Gleichgewicht „herausschaukeln" zwischen den beiden verschiedenen Systemen. Lenin
glaubte dabei fest — hier beginnt sem UtopiSmuS —, die sozialistische Methode werde
sich als die stärkere, „absorbierende" erweisen: der sozialistische Faktor werde den
Wirtschaftskreis in dem Augenblick ganz erfüllen, in dem die Bauern, überzeugt vom
Anblick der bereits sozialisierten Wirtschaft, freiwkllig in ihr aufgehen würden. Es

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