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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 14 (2. Aprilheft 1894)
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Was uns die Kunstgeschichte lehrt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0220

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gewiß ein völlig naives Genießen für unser Gefuhl voll-
kommen genügt, so gewiß fordert der Verstand des Denken-
den sein Rechß auch aus der Welt der Kunsterscheinungen
das zu verarbeiten, was ihm zugänglich ist. Somit kann
es doch wohl nicht schaden, daß wir uns nach einer
Führerin umsehen, die nns noch Verständnis verschaffen
kann, wo das Mitempfinden versagt.

Finden wir sie in einer der Künstlerparteien? Es
wäre ja freilich recht einsach, uns einer davon zuzugesellen,
um in ihrem Chorus das Vivat uud Pereat mitzuschrein.
Aber es wäre ein wenig unwürdig, deun wir wären dort
nicht mehr Selbermänner, sondern nur Gesolgschast. Der
Künstler, der von einer bestimmten Weise des Schauens
und Empfindens beherrscht werden muß, um einheitlich
schassen zu können, er hat das Vorrecht der Einseitigkeit;
wir andern aber, die wir aus jedem Quickborn schöpfen
sollen, wir haben's nicht. Vielleicht, daß die Ästhetik unser
Urteil sicherte? Ach, die alte metaphysische hat der Führer
zu Dutzenden, aber so sicheren Zeigesingers ein jeder da-
von nach einer bestimmten Richtung weist als nach dem
Lande des Allein-Schönen, die verschiedenen weisen leider
nach verschiedenen Gegenden. Und die junge Ästhetil, die
naturwissenschaftlich-psychologische, die ihre Gebäude „von
unten" aus Erfahrungen aufbaut — so Wichtiges sie uns
schon gegeben hat, bei Weitem das Meiste hat sie noch zu
finden. Wir haben von ihr außerordcntlich viel zu er-
hofsen, das Allerbeste wahrscheinlich, aber das steht auf
einem Wechsel, der noch nicht fällig ist.

Was nun kann uns zur Festigung unsres Urteils die
Kun stgeschich te lehren? Was insbesondere für die
Würdigung der Gegenwart? Können wir, wie sich Woer-
mann ausdrückt, „in der Entwicklungsgeschichte der Künste
ein Maß sinden, mit dem die Kunstströmungen der Gegen-
wart sich messen lassen?"

Einige Lehren der Kunstgeschichte liegen ofsen auf der
Hand. So der Satz, daß die Geschichte den Stümpern
und Dilettanten keine Heimstätte bietet, mögen sie auch
ein oder ein paar Jahrzehnte aus allerlei zeitlichen Ur-
sachen als Könner, ja als Meister gegolten haben. Ferner:
nur eine gediegene Technik erhält mit dem Werke auch das
Ansehen seines Schöpfers lebendig; ist das Werl vergangen,
so wird der Name, wenn er erhalten bleibt, zum leeren
Schall. Drittens: die Nachwelt richtet über die Ver-
gangenheit.

Die letzte dieser drei Wahrheiten, die so beinahe trivial
erscheinen, will doch etwas näher besehen werden. Es ist
z. B. wohl zu beachten, daß erst nach einem Jahrhundert
die Urteile der Nachwelt einheitlich zu werden Pflegen;
dann aber werden sie in der That in der europäischen
Welt international. „Man lese z. B. Vasaris, des ältesten
eigentlichen Kunstgeschichtsschreibers, Beurteilung der großen
i Meister der italienischen Frührenaissance, die ein Jahr-
hundert vor ihm lebten, man vergleiche damit die Wert-

^--

schätzung, die die anerkanntesten Kunstforscher des neun
zehnten Jahrhunderts denselben Künstlern zu teil werden
lassen, und man wird sich sofort überzeugen, daß es, von
einzelnen Abweichungen abgesehen, kunstgeschichtliche Urteile
giebt, die allgemein feststehen. Jn der That haben sich
nach und nach alle Völker nicht nur über die Bedeutung
der bahnbrechenden Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts,
sondern so ziemlich auch darüber geeinigt, welchen alten
Meistern die eigentliche Siegespalme im großen Künstler-
wettstreit aller Völker und Zeiten gebührt. Einstimmig
zählen die Deutschen und die Franzosen, die Spanier und die
Engländer, die Jtaliener uud die Niederländer Meister wie
Phidias und Apelles, wie Leonardo da Vinci, Michelangelo,
Rafsael und Tizian, wie Dürer und Holbein, Rubens
und Rembrandt, Velazquez und Murillo zu den größten
Künstlern, die die Erde seit ihrem Bestehen hervorgebracht
hat. Schon die Jnternationalität des Kunstmarkts, die
freilich durchaus keine Jnternationalität der Kunstübung
bedingt, ist ein Beweis dieser Einstimmigkeit. Abgesehen
von natürlichen Schwankungen, deren Gründe nicht immer
im Volkstum liegen, ist es ziemlich gleichgiltig, ob ein Ge-
mälde eines der gefeiertsten Großmeister in London, in
Paris, in Brüfsel oder in Köln auf den Markt kommt;
und abgesehen von Zufälligkeiten, die nicht berechenbar sind,
erzielen die Kupferstiche und Radirungen Schongauers oder
Dürers, Mantegnas oder Marc Antons, Rembrandts oder
Goyas überall ungefähr die gleichen Preise, einerlei ob sie
in den tonangebenden Verkaufssälen Deutschlands, Englands
oder Frankreichs versteigert werden." Allerdings: „Persön
liche, örtliche oder zeitliche Ausnahmeurteile sind auch
dieser gemeinsamen Schätzung der großen Meister durch
alle Kenner gegenüber nicht ausgeschlossen." Die Eigenart
der Künstler kann sie ungerecht machen auch gegen große
Meister aus der Vergangenheit, deren Wesen dem ihren
entgegengesetzt war. Ein jedes Volk wird geneigt sein, den
stammverwandten Meister immerhin höher zu schätzen, als
den fremden. Künstlerische Moden mit rückwirkender Kraft,
von denen in der Gegenwart am klarsten der Kunsthandel
zeugt, können diese oder jene Schafsensweise in der Wert-
schätzung heben oder senken. Aber für all solche bald
wieder vergehende Ausnahmeurteile können wir die be-
sonderen Ursachen erkennen, welche die Magnetnadel ab-
gelenkt hat, und so dürsen wir hier in der That einmal
mit Recht das viel mißbrauchte Wort von den Ansnahmen
anwenden, welche die Regel bestätigen. Ein lange Dauer
haben zudem solche Ausnahmeurteile niemals; das dauernd
und überall Giltige wird stets wieder binnen kurzem an-
erkannt.

Welche Merkmale zeigl es nun, was in diesem Sinne
„llassisch", was „ersten Ranges" ist? Phidias und Dürer,
Jan van Eyck und Michelangelo, Leonardo und Rubens,
Holbein nnd Velazquez, Rembrandt und Rafsael und alle
die andern Kunstheiligen — was haben sie, die so un-

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