Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
DOI Artikel:
Panzer, Friedrich: Jacob Grimm
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0020

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
noch einen Schatz lebendigster Äberlieferung besitzen, der unser großes Volk
durch alle Stände und Lebensalter zusammenhält und einigt.

Wie viele aber von denen, die hier des köstlichen Gemeinbesitzes sich
freuten, dachten wohl daran, daß wir einer vereinzelten Tat, einem
persönlichen Geber ihn danken? Ia, sreilich sind unsre Märchen nicht die
Ersindung eines Einzelnen. Niemand mag sagen, wann und wo diese
Stücklein dem Dämmer der Vorgeschichte sich entrangen; der halben Mensch-
heit zugeteilt, sind sie seit ünvordenklichen Zeiten im Schwange. Aber
daß, was auch andere Völker besitzen, uns Deutschen in einer bestimmten,
uns allen geläufigen Auswahl und Form Gemeingut geworden ist, daran
wir alle uns weiden, an dessen Besitz wir einer den andern auch in der
Fremde erkennen mögen, das danken wir allein den Brüdern Grimm.
Zu Weihnachten vorigen Iahres durften wir die Hundertjahrfeier ihrer
Kinder- und Hausmärchen begehen, in denen die alten^, beim kindlichen
Spiel lange verstreuten, schon halbverlornen Edelsteine so köstlich gefaßt
waren, daß unser Volk sie willig in seiner ewigen Schatzkammer bewahren
wird. „Tragen wir einen Dank davon sür alle Mühen und Sorgen, der
uns selbst zu überdauern vermag, so ist es der für die Sammlung der
Märchen." So hatte Iakob mit klarer Einsicht in der Rede gesagt, die er
dem geschiedenen Bruder zum Gedächtnis in der Berliner Akademie hielt.
Im Andenken unseres Volkes dauern die Brüder als die Erzähler der
Kinder- und Hausmärchen sort. Aber die Nation dankt ihnen und dankt
Iakob vor allem doch noch weit mehr. Ls ist hier im vorigen Heste davon
gesprochen worden, wir dürfen nochmals daraus zurückkommen. So ernst
und streng eben Iakob mit seiner Wissenschaft es meinte, so serne gerade
ihm jedes Popularisieren lag, so wenig ist ihm doch je über der kleinsten
der tausende von Einzelheiten, mit denen seine Forschung umging, die
Idee des großen Ganzen, die Idee seines Volkes verloren gegangen, der
er mit nie verglühter Begeisterung diente.

Er ist der Begründer einer strengen germanistischen Wissenschaft ge-
worden, aber man merkt es ihren Anfängen noch an, daß sie Neigungen
und Absichten entwachsen war, die höheren und allgemeineren künstlerischen
und kulturellen Zielen zustrebten. Mit und aus der Romantik erwuchs sie.
Savigny, Tieck, Brentano, Arnim hatten an ihrer Wiege gestanden. Bei
Savigny hatte der Student Iakob gelernt „was es heißt, eine Sache stu-
dieren": die gründliche Gelehrsamkeit und vor allem Drang und Fähigkeit
zu geschichtlicher Würdigung aller Lebenserscheinungen, die der Ausklärung
des achtzehnten Iahrhunderts gerade so völlig gefehlt hatte. An Tiecks
Minneliedern hatte seine Neigung sür das Studium des Altdeutschen sich
entzündet, und Brentano rühmte sich, ihn in gleiche Richtung gelenkt
zu haben. Er hatte Arnim den Brüdern zugeführt, aus dessen unbeirrter
Freundschaft ihnen lebenslang wichtige Anregungen entkeimten: sein und
Brentanos Wunderhorn schon hatte ihnen den stärksten Anstoß zur Samm-
lung der Volksüberlieserung gegeben.

Es kamen dann freilich zu diesen Anregungen von Zeit und Nmwelt
bei Iakob Grimm die bedeutendsten persönlichen Anlagen dazu: jene enge
Verbindung und Vertrautheit mit dem Volke, wie sie in dieser Familie
von Pfarrern und Amtleuten von jeher erblich war; die innigste Liebe
zum Vaterlande, ja zur engsten Heimat, die den „Stockhessen", wie er
selbst sich nannte, schon die Äbersiedelung von Kassel nach Göttingen wie
einen Gang ins Elend empfinden ließ, darin er durch einen Aufblick zu

5
 
Annotationen