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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
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Schmidt, Leopold: Zur musikalischen Zeitgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0033

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denzen. In einer Zeit, die an dern Theater der Fünftausend Geschmack findet,
in der das Kino die dramatische Kunst bedrängt, in der der Amerikanismus,
die Freude am Ankultivierten den Markt regelt, kann auch die Musik der
Vergröberung, der Ausbeutung sür die Menge nicht ganz entgehn. Aber
von allen Künsten ist sie, die weltfremde, vom Zeitgeist am oberflächlichsten
berührt. Mehr in ihren Erscheinungsformen als in ihrem inneren Wesen
zeigt sie sich von ihm beeinflußt. So konnte sich anderseits aller Idealis-
mus und aller Welttrotz in die Musik flüchten. Erscheinungen wie Strauß,
Reger, Mahler, Psitzner und ihre Ersolge wären sonst unerklärbar. Und
während andre Künste — ob mit Recht oder Unrecht — des Verfalls, der
Senilität bezichtigt werden, ist es nun offensichtlich geworden, daß die Ton-
kunst noch immer die Kraft besitzt, sich aus sich selbst heraus zu verjüngen.
Aus einen Aufschwung sondergleichen, aus eine sast überstürzte Entwicklung,
die alle Möglichkeiten erschöpst zu haben schien, war eine Zeit gefolgt, die
in dem Streben nach Selbständigkeit das Mittel (die Technik) mit dem
Zweck verwechselte, die dem Wesen aller Kunst Gewalt antuend sich im Ex-
perimentieren und Äbertreiben gesiel und eine wirkliche Kunstsreudigkeit
kaum noch aufkommen ließ. In dem Iahre, das eine Doppelgeburt des Genies
feiert, wie sie gleich bedeutsam auf musikalischem Gebiete nur noch (685, dem
Geburtsjahre Bachs und Händels, sich ereignet hat, im Iahre der Er-
innerung an die deutschen Befreiungskriege dürfen wir uns nach langem
Harren und langer Rngewißheit bewußt werden, daß in der zeitgenössischen
Tonkunst ein freiheitlicher Geist erwacht, der mit engenden Vorurteilen und
eingewurzelten Irrtümern ausräumt und die frische Luft neuer Hosfnungen
in die stickig gewordene Atmosphäre weht.

Es mußte auffallen, daß gerade in den Tagen, wo alle Welt sich an-
schickte, das Andenken Richard Wagners zu ehren, pietätlose Opposition
sich unverhohlen hervorwagte und das leuchtende Bild des Meisters zu be-
flecken trachtete. Die Ursache daran ist natürlich zum Teil in jener mensch-
lichen Verkleinerungssucht zu suchen, die Schiller durch geflügelte Worte
gekennzeichnet hat; zum Teil aber entsprang diese Bewegung einer ehr-
lichen, in künstlerischen Äberzeugungen begründeten Abneigung, einem
Groll, der sich von lang her ausgespeichert hatte. Nicht gegen das Werk
Wagners, das unerschütterlich in der Geschichte dasteht, richteten und richten
sich solche Gesinnungen, sondern gegen die Folgen, die es für unsere musi-
kalischen Zustände gezeitigt, gegen die Gesahren, die es herausbeschworen hat.
Insofern hängt dieses moderne Antiwagnertum mit der wiedergewonnenen
Freiheit des Rrteils zusammen und ist eines der Merkmale, die ich für
meine Thesen von der musikalischen Regeneration in Anspruch nehmen darf.
Diese selbst aber offenbart sich im Schafsen der Lebenden, nicht in der
Kritik der Toten. In der Kunst vollziehen sich die großen Amwandlungen in
konkreten Lrscheinungen- alle theoretische Spekulation ist nur der Abglanz,
die Folge davon.

Der Zustand, der um die Mitte des vorigen Iahrhunderts in der Musik
eingetreten war, der Wagners, Liszts reformatorisches Austreten (für Frank-
reich wäre Hector Berlioz zu nennen) möglich und notwendig machte, läßt
sich kurz so charakterisieren: der melodische Ausdruck war rückständig ge-
worden, er entsprach nicht mehr dem wahren Lmpfinden der Zeit. Er war
nur noch künstlerische Konvention. Die Musiker, die das fühlten, sahen sich
zur Anfruchtbarkeit oder zum Einschlagen eines neuen Weges gezwungen.
Seit Iahrhunderten gab es musikalische Ausdrucksnormen, die, durch große
 
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