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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
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Schmidt, Leopold: Zur musikalischen Zeitgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0034

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Meister variiert, zuletzt durch die Romantiker mit volkstümlichen Elementen
durchsetzt worden waren, die aber in ihrem Wesen typisch blieben. Wagner,
der Stärkste der drei Genannten, erzwang sich neue Ausdrucksformen für
das, was er empsand nnd künstlerisch gestalten wollte. Es scheint, daß solche
Momente der Fortentwicklung nicht ohne Kamps gegen die Form verlausen
können, weil durch die Form zugleich der Ausdruck gebunden ist. Es war
aber der große, folgenschwere Irrtum der zweiten Iahrhunderthälfte, daß
sie in dem destruktiven Versahren in erster Linie das Verdienst Wagners
erblickte, in dem Gegensatz, in den er zur Vergangenheit trat; daß sie ge-
wissermaßen nur das Negative, nicht das Positive seines Schaffens erkannte
und hochschätzte. Es kam eine Generation, die den melodischen Ausdruck
srüherer Zeiten bekämpste, ohne einen neuen an seine Stelle zu setzen. Man
glaubte, sortschrittlich, modern, wagnerisch zu sein, wenn man die melodische
Linie vermied oder möglichst unkenntlich machte. Unter den Iungen von
damals grisf eine förmliche Angst vor der „Melodie" Platz, und das Pu-
blikum, geblendet von den Ersolgen Wagners und verwirrt durch eine
spekulative Asthetik, ließ es sich gefallen, daß man seinen natürlichen Be-
dürfnissen Befriedigung versagte. Der unsinnige Satz konnte aufgestellt
werden, daß der musikalische Gedanke, die Melodie, gar nicht die Haupt-
sache in der Musik sei, und es wurde so dargestellt, als ob die srühere Ent-
wicklung, von einem fundamentalen Irrtum ausgeheyd, auf ein totes Ge-
leise geraten sei. Freilich, das große Loch, das nun entstanden, mußte ge-
stopft werden, und es war ganz natürlich die zweite Folge der sogenannten
„neudeutschen" Bewegung, daß die Forderung nach einer verseinerten, diffe-
renzierten Technik aufgestellt wurde. Man darf das Gute, das der ein-
seitige Knltus der Technik gezeitigt hat, nicht unterschätzen. Diese im letzten
Grunde unfruchtbare Epoche hat doch in ihrer Weise die Zukunft vor-
bereiten helfen. Künftigen Tagen wird die ungeahnte Vervollkommnung
des Orchesterspiels, die ein Produkt unsrer Zeit ist, wird die Tatsache, daß
der Sinn für die Bedeutung der Farbe geweckt und aufs feinste aus-
gebildet, die sinnliche Schilderungsfähigkeit der Tonsprache, deren die
mächtig ausblühende „Programmusik" bedurfte, ins Unermeßliche ge-
steigert worden, ein unverlorner Gewinn sein. Aber darum bleibt doch
bestehen, daß dies alles nur Mittel zum Zweck ist, und daß eine Zeit, die
technisches Können an sich schon für eine künstlerische Tat hält, den wirk-
lichen Fortschritt der Kunst eher hemmt als fördert.

Wir wissen nun, worunter wir gelitten haben, und wie es kommen mußte,
daß alles musikalische Neuschassen uns im Innersten unbefriedigt ließ. Es
bewegte sich um seine natürliche Aufgabe herum, ohne sie zu lösen; es
sehlte die Seele, der melodische Ausdruck sür das, was wir empfinden
sollten. An die Stelle der Melodie war das „Motiv", die musikalische
Floskel getreten, mit der auch der empsindungsärmste Kopf operieren konnte.
Kleine, nichtssagende, pritzliche Gebilde (die aber etwas zu „bedeuten"
hatten) wurden aneinandergereiht, und ihre technische Verwertung, ihre
aus der Reslexion gebornen Kombinationen sollten ersetzen, was doch nur
der unmittelbare Empfindungsausdruck zu geben vermag! Kein Wunder,
daß diese Erzeugnisse des künstlerischen Intellektes keinen Lebenskeim in
sich trugen und kein Leben verbreiteten. Aber sie machten Schule und be-
stimmten längere Zeit hindurch den „Stil". Nnd das um so leichter, als
durch die Emanzipation von Form und Traditionen der Willkür Tür und
Tor geösfnet waren und das „Individuelle", das als Zeichen der Freiheit
 
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