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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
DOI Artikel:
Schmidt, Leopold: Zur musikalischen Zeitgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0035

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im Wert gestiegen, den Deckmantel auch für die hilflosen und dreisten Ver-
suche ausgemachter Talentlosigkeit abgab. Auf diesem Wege konnten neue
Ausdrucksarten nicht gefunden werden.

Eine neue Zeit ist angebrochen, die uns von lähmenden Vorurteilen be--
freit und einer gesunden Entwicklung die Bahn ebnet. Natürlich ist es nicht
ein Willensakt einzelner oder einer Gesamtheit, wenn die Scheu vor dem
Melodischen zu weichen, die Flucht ins Unklare und Komplizierte aufzuhören
beginnt. Beides war die Folge eines Mangels, einer Notlage, die über-
wunden werden mußte. Der melodische Ausdruck, den wir kannten, hatte
sich erschöpft; er war keiner Wandlungen mehr fähig, konnte Neues nicht
mehr aus sich hervorbringen. Wenn wir uns heut nun eingestehen, daß
in der Melodie, in der thematischen Erfindung, die Quintessenz aller
Musik umschlossen ruht, daß sie, das Gesicht, an dem man eine Musik
erkennt, der Nrkeim und zugleich die höchste Blüte, das Primäre und das
Wesentlichste in der Tonkunst ist, so wissen wir doch, daß wir zur Melodie von
ehedem nicht zurückkehren wollen, noch brauchen. Iede Zeit hat ihre eigene
Melodie, formt sich ihren eigenen melodischen Ausdruck. Es hat lange ge-
dauert, bis die unsrige ihn gesunden, sich auf sich selbst besonnen hat. Die
Wandlung mußte eben größer sein, entsprechend den größeren Schritten,
mit denen die gesamte geistige Entwicklung vorangeeilt ist. Aber der
Bann ist gebrochen, die Freude an der Melodie verkriecht sich nicht mehr
schamhaft, weil diese Melodie der ehrliche Ausdruck zeitgemäßen Empfindens
geworden ist. In unermüdlicher Arbeit haben unsere Meister dahin ge-
wirkt. Das Sichversenken in vergangene Stilepochen, ihre Rekonstruktion
und Anpassung war ein erstes Symptom. Nun meldet sich ein freieres
Ausblicken in die Zukunft. Noch macht sich die Bewegung nicht aus
der ganzen Linie bemerkbar. Aber man braucht nur den Führer der Mo-
dernen, Richard Strauß, der als Erfinder wie als Könner um Hauptes-
länge alle überragt, zu beobachten. Immer freier, klarer, bestimmter
gestaltet sich sein melodischer Ausdruck, immer mehr wird er zum eigent-
lichen Träger der Wirkung. Strauß hat im Grunde nie den Melodiker
verleugnet, aber er hat verschiedene Phasen der Anlehnung und des Schwan-
kens durchgemacht. Das Interessante ist, daß sein melodischer L)uell nicht
versiegt, sondern immer üppiger hervorsprudelt, daß je persönlicher, kühner,
bedeutsamer er schafft, um so mehr seine Gedanken sich zum Melos verdichten.
Nnd das ist ein Zeichen, daß die Hoffnungen derer, die an eine musik-
sreudige Zukunft glauben, berechtigt sind. Die Melodie der Zukunft
wird die eroberte Freiheit der Gestaltung in Rhythmus und Harmonie,
die difserenziertere Technik nicht wieder ausgeben, aber — sie wird Melodie
sein. Ein Stück wie der große Monolog der „Ariadne" bedeutet eine
neue Morgenröte, ein Erlebnis, um das uns unsere Nachkommen beneiden
werden!

So ist denn das Iubiläumsjahr auch geeignet, den Blick nach
vorwärts zu richten und uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir allem
Anschein nach vor einem Wendepunkt, vielleicht sogar an der Schwelle
einer Zeit stehen, die sür die Tonkunst eine Epoche erneuten Ausschwungs,
reicherer Erfüllung zu werden verspricht. Leopold Schmidt

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