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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
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Heidenfeld, ...: Von der Prozeßseuche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0048

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aber meist nur die wirtschaftlich Schwächeren. Schwache Schultern tragen
daher wie bei den Steuern die Hauptlast. Hierzu kommen die Kosten,
die durch den Anwaltszwang entstehen. Wie berechnet wurde, zahlt das
dentsche Volk jährlich 50 Millionen Mark an die Rechtsanwaltschaft allein
für die gerichtliche Feststellung von 50 Millionen Forderungen, die von
den Schuldnern gar nicht bestritten werden.

Die beigebrachten Ziffern ergeben, wie sehr die Prozeßseuche am Marke
der Nation zehrt und ihre Geld- und Lebenskraft erschöpft. Gehen wir
jetzt auf die Ursachen ein. Sie sind, wie oft betont wird, im deutschen
Volkscharakter begründet. Im Prozeß spiegeln sich die Not, die Irrtümer
und die Verbrechen der Menschheit wieder. Aber es gibt auch ganz
geringfügige Irrtümer, „Bagatellen", selbst vom Standpunkte der Recht-
suchenden aus betrachtet. Den schwerfälligen und kostspieligen Apparat
des Rechts in solchen Fällen in Bewegung zu setzen, bedeutet eine Äber-
spannung des Rechtsgefühls. Der Engländer ist darin gelassener, praktischer.
Der deutsche Michel dagegen verprozessiert das letzte Hemd, um schließlich
sein oft nur theoretisches Recht schwarz auf weiß im Namen des Königs
bestätigt zu bekommen. Am meisten tun sich bekanntlich darin die Bauern
hervor: wer weiß nicht von den endlosen Besitz- und Grenzstreitigkeiten,
wo ländliche Gerechtigkeiten, gerichtlicher Augenschein, amtliche Ver-
messungen mit ihren unendlichen Kosten eine oft so verhängnisvolle Rolle
spielen? Wohl jeder glaubt, daß er schon einmal um sein gutes Recht
gekommen sei, bei sehr vielen ist es so, und in manchem steckt, ohne daß
er's ahnt, etwas vom Geiste des Michael Kohlhaas. Sache der Nerven
ist es in solchen Fällen, sich zu überwinden. Wer sich nicht überwinden
kann, kann über dem Ruin seines Vermögens in Querulantenwahnsinn
stürzen. Denn diese Rechtsüberempfindlichen machen bei rechtskräftiger
Sache nicht tzalt. Dann tritt bei ihnen erst das Arsenal der Meineids-
anzeigen, Armenrechtsgesuche und Beschwerden in Tätigkeit mit dem Wie-
deraufnahmeversahren als Endzweck.

Ein Beispiel davon, wegen welcher Kleinigkeiten gestritten wird. Ab-
sichtlich kein Ausnahmefall, sondern ein ganz gewöhnlicher, einer wie
er wohl schon jedem einmal so oder in ähnlicher Form durch die Hände
gelausen ist. Ich denke an einen Prozeß um eine alte Säge. A verklagt
den B auf tzerausgabe einer alten Säge, beide behaupten Eigentümer
zu sein. Der Richter vernimmt viele Zeugen, welche die Säge bald bei
A, bald bei B gesehen haben. Er hört den Kaufmann, von dem sie ge-
kauft ist. Das Beweisergebnis ist nicht klar. Der Richter erkennt auf
einen Eid sür den Kläger. Die Sache geht in die Berufung. Die Säge
verschwindet. Anscheinend hat sie der Beklagte beiseitegebracht, um sie
nur beileibe nicht herausgeben zu müssen. Der Kläger ändert folgerichtig
die Klage und fordert Wertersatz. Wieder werden Zeugen vernommen.
Das Bild ändert sich nicht. Auch der Berufungsrichter scheint geneigt,
wie der erste Richter zu entscheiden. Aber die Parteien können sich über
den Wert der Säge nicht einigen. Ein Sachverständiger wird gehört.
Der „schätzt" die verschwundene Säge an der Hand der Zeugenaussagen
und des sonstigen Akteninhalts. Schließlich ist es soweit. Auch der
zweite Richter erkennt auf einen Eid des Klägers. Der Prozeß dauerte
drei Iahre und verursachte schon über ^00 Mark Kosten. Niemand wird
das für eine Aufschneiderei halten. Man wird aber vielleicht glauben,
daß ich nach unten übertreibe, wenn ich bekanntgebe, daß der Sachver-

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