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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
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Heidenfeld, ...: Von der Prozeßseuche
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0049

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ständige den Wert der Säge auf 50 Pfennige geschätzt hatte. And doch
ist es so. Also 50 Pfennige haben drei Iahre Nerven und über s00 Mark
bares Geld gekostet, ganz abgesehen von dem Zeitauswand und der Arbeit.
Man wird zugeben rnnssen, daß ein System, wo solches möglich ist, bis
zum Kern faul sein muß.

Der Deutsche trägt, um es nochmals hervorzuheben, infolge seiner
seelischen Veranlagung den Nährboden für die Prozeßseuche in sich. Die
Krankheit kommt aber erst durch den Anwaltzwang und die Äberfüllung
des Anwaltstandes voll zum Ausbruch. Zivilprozesse vor einem deutschen
Kollegialgericht können nur durch Anwälte geführt werden. Ausnahmen
gibt es nicht, mag nun die Partei der Staat selbst oder eine Stadt oder
eine Großbank sein. Sie alle haben nicht das Recht, vor Gericht zu stehn.
Sogar der König muß einen Anwalt zum Prozeßvertreter haben. Ich
spreche gar nicht von den vielen juristisch vorgebildeten Personen wie
Richtern, Rechtslehrern usw. Line überaus merkwürdige Linrichtung!*
Denn alle jene Personen bearbeiten ihre Prozesse selbst oder durch juristisch
geschnlte Beamte. Der Anwalt hat hier nichts weiter zu Lun, als ^>ie
Schriftsätze zu zeichnen und im Termine die Anträge zu verlesen. Aber
auch in Prozessen ohne Anwaltzwang hat kraft besonderer gesetzlicher
Vorschrift der Unterliegende sogar die Anwaltkosten des Siegers zu be-
zahlen. Es wird nicht etwa geprüft, ob der Betreffende sich nicht selbst
vertreten konnte. Die Folge hiervon ist, daß der Schuldner beliebig
„auf Kosten getrieben" werden kann. Nnd trotz allem kommen die wenigsten
Anwälte auf einen grünen Zweig. Die deutsche Anwaltschaft leidet unter
Äberfüllung, ihre Zahl hat sich in den letzten zwanzig Iahren in Preußen
verdoppelt und dabei steigt sie noch andauernd weiter. Die Folge ist,
daß die „Kommerzialisierung" und „Proletarisierung" des Standes rasch
fortschreitet. Besonders in den Großstädten ist die wirtschaftliche Not der
Anwälte groß. In Dresden hatten HO vom Hundert der dortigen Anwälte
im Iahre sysO weniger als 3000 Mk. Iahreseinkommen, und in den
meisten Großstädten ist es ähnlich. Am schlechtesten steht's in Berlin.
Dort lebeu 500 Anwälte, die, wie in der Iuristischen Wochenschrift, dem
amtlichen Blatt der deutschen Rechtsanwaltschaft, zu lefen ist, wirtschaft-
lich als „problematische Existenzen« anzusehen sind. In Berlin gibt es
auch eine Liste der Anwälte, die den Offenbarungseid geleistet haben und
eine Liste der Exmittierten. Der offenbare Notstand wird schließlich durch
die vielfachen Veruntreuungen in ein grelles Licht gesetzt, die Kriminalität
der deutschen Anwälte ist größer als die ihrer Bureauangestellten, die
auch nicht auf Rosen gebettet sind. Daß solche Leute eher geneigt sind, zu
Prozessen zu raten, als davon abzuraten, ist erklärlich und sogar verzeih-
lich. Wer abrät, verdient so gut wie nichts, und die Erwägung, daß es
der Konkurrent doch „macht^, gibt häufig den Ausschlag. Wer bedenkt
da schließlich, daß es die schönste Pflicht der Staatsanwaltschaft ift, auf Frei-
sprechung zu plädieren, und die schönste Pflicht der Rechtsanwaltschaft,
Prozesse zu verhindern? Im Publikum setzt dort, wo man früher
einfach geglaubt und vertraut hat, die Kritik ein, deren Wurzel der

^ Sie ist im Kunstwart schon im ersten Ianuarheft besprochen worden.
Auch, was für sie spricht oder doch sie begreiflich macht, ist dabei uud in andern
Aufsätzen erörtert worden. Denn auch unsrer Zeitschrift liegt nichts ferner, als
anwaltfeindlich zu sein. K.-L.

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