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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
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Natorp, Paul: Freideutsche Jugend
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0133

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gab dem Versuch Bedeutung: in dieser idealen Erziehung verlegte er
nun den Schwerpunkt vom Lrzieher in den Zögling. „Natur"
müsse walten, Erziehung nur nicht hemmen, die vorhandenen Hemmungen
aus dem Wege räumen. „Natur", das heißt: Selbstsein, Selbstleben, und
Selbstsein-, Selbstleben-w o l l e n des werdenden Menschen.

Ein solcher Ruf nach „Natur" ertönt heute wieder. Nnd unsere Zeit
sindet wenigstens insoweit günstigere Vorbedingungen zu einer „natür-
lichen" Erziehung, als der Zwang der äußeren Verhältnisse, so drückend
er im einzelnen empsunden werden mag, doch im ganzen entfernt nicht
mehr so lastend ist, wie er es in Rousseaus Zeit gewesen sein muß. Das
Netz ist noch immer eng und fest genug, aber es hat doch Maschen, durch
die der Freiheits- und Selbstheitsdrang des werdenden Menschen die
Fühler strecken mag in die stärkende, nährende Luft eines durch keinen
Zwang festliegender Dogmen und Satzungen eingeengten Lebens. Da
mag schon eine Iugend, in der dieser Drang des Selbstseinwollens er-
wacht ist, Mut fassen zu dem fröhlichen Wagnis, ihre Erziehung selbst
in die Hand zu nehmen.

Diesen Geist der Selbsthilfe erkennen wir zu unserer Freude in
der heutigen Bewegung unsrer deutschen Iugend, deren bekanntester, aber
nicht einziger Typus der „Wandervogel" ist. Weniger fröhlich muß die
Äberraschung für den auch heute noch nicht ausgestorbenen Schulpedantis-
mus gewesen sein,- aber ihm blieb Gott sei Dank nicht die Zeit, von dem
Erstaunen über solch unvorschriftsmäßiges Ausfliegen aus dem wohl-
gehüteteu Nest sich eher zu erholen, als da die Bewegung so stark geworden
war, daß man sie, gern oder ungern, gelten lassen mußte.

Wahrlich, es steckt etwas in dieser Bewegung. Wer ihre schon Bände
süllenden, periodischen und nichtperiodischen Außerungen durchsieht, findet
gewiß manches von recht bescheidenem Wert, manches allzu Iugendliche;
doch nichts oder beinahe nichts Angesundes, in der Richtung Verkehrtes,
nach Form oder Inhalt ernstlich Verfehltes,- in den großen Hauptdingen
aber eine Sicherheit der Einsicht, Reinheit der Absicht, Klarheit, weil
eben gesunde Sachlichkeit, selbst der formalen Fassung, die Achtung
erzwingt. And jede persönliche Berührung mit solchen, die ganz in der
Bewegung stehen und ihren Pulsschlag unmittelbar mitzufühlen in der
Lage sind, bestätigt und verstärkt diesen überwiegend günstigen Eindruck.

Was vielleicht am meisten und am erfreulichsten auffällt, ist die still-
schweigende, aber unbeirrt feste und klare Ablehnung jeder von außen
her aufgedrungenen, nicht aus dem eignen Sein und Leben unmittelbar
fließenden Zielsetzung. Diese Iugend will selbst, und weiß im ganzen,
was sie will, ohne daß man es ihr erst anzubefehlen oder vorzuschlagen
oder auch nur auszulegen brauchte. Sie will: leben aus eigner Ver-
antwortung, will sie selbst sein; sein in des Wortes erfülltem,
gedrängtem Sinn: sein aus eigener, innerer Wahrheit, mit Austilgung
alles Scheins. Das ist der „dunkle Drang" in unsrer Iugend, der, so
scheint es, auch des rechten Wegs sich wohl bewußt ist.

Alles, was sie im besondern übt, sind nur die gebrochenen Strahlen

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