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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
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Natorp, Paul: Freideutsche Jugend
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0134

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dieses einen Lichts. Sie will Ausarbeitung des Körpers, strenge Selbst-
zucht statt Vergeudung der Iugendkraft; aber sie macht nun nicht
Körperübung, oder gar bloß negativ Abstinenz und geschlechtliche
Askese, zum Selbstzweck; sie will auch nicht gesund und stark sein
um irgendwelcher sonstiger, noch so edler Zwecke und Aufgaben willen,
sondern ganz schlicht als Ausdruck eines in sich freien, natür-
lichen Iugendlebens. Sie hat den hohen Wert des Wanderns
erkannt, aber sie wandert nicht um des Wanderns willen oder um irgend-
welcher zu erwandernder Ziele, sondern weil es ihr natürlich ist, weil sie
die Ersahrung gemacht hat, daß sie des eignen, unbefangnen Seins und
Lebens darin wie fast in nichts anderm froh wird. Sie ist ohne Zweifel
gut vaterländisch gesinnt, aber sieht nicht in dem Vaterländischsein eine
besondere ihr gestellte Aufgabe; sie ist deutsch, und sie will ganz sein,
was sie ist; wie sinnlos, ihr das erst predigen und gar andrillen zu wollen!
Sie Pflegt, in schon hochverdienstlicher Weise, das Volkslied, sucht volks-
tümliche Bauart, Heimschmuck, Gerät, Kleidung, Sitte, Brauch, Sprache
kennen und mitfühlend verstehen zu lernen, nicht um der Wissenschaft
oder sonstiger gewiß vortrefflicher Zwecke willen, sondern einfach weil
man Mensch unter Menschen sein, mit Menschen menschliche Gemeinschaft
haben will. Klar und nicht ohne Schärfe lehnt man jedes von oben her,
besonders von militärischer Seite in die Wege geleitete Bemühen um
die „Ertüchtigung" der Iugend ab. „Tüchtig" kommt von „taugen". Nun,
wer etwas i st, wird schon auch zu was taugen. Aber nicht aufs Taugen,
auf Brauchbarkeit zu dem oder jenem Zweck kommt es zuletzt an, sondern
aufs Sein. Selbstverständlich daß, wer ein ganzer Kerl ist, nicht sein
Leben unnütz verbringen, oder gar hinterm Ofen hocken wird, wenn's ein-
mal um Gut und Blut des Vaterlandes gehen sollte. Aber nicht darum
und dazu will man ein rechter Kerl sein, sondern weil ihn Gott so gewollt
hat. Das heißt: Iugend hat keine „Tugend".

In dieser reinen Absichtslosigkeit sehen wir das beweisendste
Zeugnis der Gesundheit dieser Bewegung. Das ist Iugend, ist jene
„Trunkenheit ohne Wein", von der der Dichter sagt. Den Wein trinken
die Alten, um zu vergessen; die Iugend braucht nicht erst zu vergessen,
nicht erst ausdrücklich zu meiden, auszuschließen, abzulehnen, was ihr
innerstes Sein angreift und zu vergiften droht, sie kommt aus eigner,
innerer Gesundheit gar nicht daraus, sie hat es schon ausgestoßen damit, daß
sie rein und schlicht nur sie selbst sein, sich selbst darleben will.

Vielleicht ist das eine Idealisierung. Aber man muß den Mut haben,
einmal Zutrauen zu fassen. Man braucht darum nicht blind zu sein
gegen die nur zu naheliegenden und mannigfachen Gefahren. Gerade die
es am besten mit dieser Bewegung meinen, sehen sie fchon jetzt in einer
gefährlichen Krise. Sie fürchten, daß in ihrer reißend schnellen Aus-
dehnung die ursprüngliche Reinheit ihrer Absicht verloren gehe, sie glauben
die Anzeichen eines inneren Verfalls schon jetzt wahrzunehmen. Sie
besorgen, daß über den Dilettantismen des Singens, Tanzens, Zupfgeigen-
spielens, dem Imitieren des Volkstümlichen u. a. der Ernst der Sache

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