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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0211

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taugt." Hatte Schiller aber diesen
Stofs, diesen Gegenstand, dieses
^betastliche Objekt" gefunden, dann
genügte ihm nicht ein oberflächliches
Wissen darum, dann begann er sich
vielmehr mit aller Kraft in den
Stosf einzuarbeiten. Dann konnte
sein Wissen von dem Gegenstand
nicht breit und tief genug werden.
Man denke an seine Geschichte des
Dreijzigjährigen Krieges, der die
Wallenstein-Trilogie entwuchs, und
an die Vorarbeiten zum Tell und
zum Demetrius. Der Stoff
mußte erst innerlich erlebt
werden, um selbst wieder,
mit innerem Leben erfüllt,
neue Gestaltung sinden zu
k ö n n e n.

Genau das Entsprechende gilt für
den gestaltenden Lehrer, und zwar
aus allen Gebieten seiner Unter-
richtstätigkeit. Wer über irgend-
einen Stosf, sei er der Geschichte,
der Natur, sei er der Sprache oder
der Mathematik entnommen, unter-
richten will, der muß vorerst ein
gründliches Wissen von dem Stosse
selbst besitzen, muß überblicken
können, was da ist, um in
rechter Weise auswählen zu
können, was im gegebenen
Linzelfall nötig ist.

Der Lehrer darf nicht von der
hand in den Mund leben, wenn er
nicht ein armer Schlucker heißen will.
Das gilt auch von seiner wissenschaft-
lichen Ausgabe. Ich habe mich Zeit
meines Lebens ehrlich bemüht, mir
auf den verschiedenen Gebieten des
Wissens und Könnens Kenntnisse
und Fertigkeiten anzueignen. Auch
habe ich zuweilen die Empsindung
gehabt, daß ich viel toten Ballast
in mich ausgenommen hatte und um
der inneren Freiheit willen manches
getrost vergessen durfte; ich habe
jedoch in meiner Tätigkeit
als Lehrer noch niemals die
Äberzeugung gewonnen, daß ich auf
irgendeinem Gebiete zu viel gewußt

oder zu viel gekonnt hätte. Wohl
aber ist es mir oft begegnet, daß ich
vor den Schülern die Lmpfindung
hatte: Hier sollte dein Wissen und
Können weniger Bruchstück sein;
hier solltest du tiefer eingedrungen
sein, hier sollte dein Äberblick mehr
umspannen — dann würdest du es
methodisch besser machen.
Und sonderbarerweise: Erwachsenen
gegenüber empsand ich diese Lücken
nicht! Ie mehr ich von einer Hörer-
schast voraussetzen konnte, je gebil-
deter sie war, desto leichter fiel mir
der Ausdruck. Wohl aber empfand
ich jene Mängel in der eigenen
Bildung den Kleinen und Kleinsten
gegenüber, vor ihnen, die in ihrem
Denken und Empfinden soviel Ver-
wandtschast zeigten mit dem Denken
und Empfinden einer Entwicklungs-
stufe, die dem reifen Kulturmenschen
von heute bereits fern und fremd
geworden ist. Hier müßte man vor
allem gründlich in die Entwicklungs-
geschichte der Wissenschaft oder der
Kunst eingedrungen sein, deren Ele-
mente man vermitteln soll, um jenen
geheimen Kontakt, der zwischen
Volks- und Individualpsyche besteht,
zu treffen und 'zu beachten. Line
Forderung, die leichter gestellt als
erfüllt ist, da jene Entwicklungs-
geschichte der einzelnen Fächer selbst
noch des inneren Ausbaues harrt.

Wer dem jungen Lehrer nur eine
methodische Ausbildung ohne gründ-
liche Allgemeinbildung, ohne tief-
gehendes Fachwissen vermitteln will,
der gibt ihm leere Nüsse. Ieder
Stoff folgt bei der Gestaltung Ge-
setzen, die ihm immanent sind. Wer
die rechte Formung finden will, der
muß diese Formgesetze erlebt haben,
und erleben kann er sie nur
bei der Arbeit an und mit
dem Stoff, nimmermehr aber als
Form an sich, als leere Abstraktion.
Darum handelt die Lehrerschaft auch
im ureigensten Berufsinteresse, wenn
sie sich gegen jede Herabminderung

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