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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI Artikel:
Meyer, Richard M.: Krisis, Krach, Bankrott der Literaturgeschichte, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0244

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Zunächst: nmn darf eine Wissenschaft selbstverständlich nicht nach den
Dissertationen allein beurteilen. Denn diese haben noch viel mehr päda-
gogische Absichten, als wissenschastliche. Ein Thema, das gar nicht ge-
eignet ist, wissenschaftlich bedeutsame Ergebnisse zu liefern (worüber ich
übrigens nach dem Titel allein niemals so nnbedingt urteilen würde wie
unsere Kritiker es gern tun!), kann doch sehr geeignet sein, einen An-
fänger in die wissenschastliche Arbeitsweise einzuführen und seine Lignung
hierzu zu erproben — und dies eben ist die rechte Aufgabe der Disser-
tationen. Doch ist gewiß zuzugeben, daß der Durchschnitt der Dissertationen
für die Prosessoren und ihre Methode charakteristisch ist; auch das, daß
hier nicht überall alles zum besten bestellt ist. Es gibt große Gelehrte,
die kein Talent haben, Aufgaben zu stellen; vor allem keins, sie zu indi-
vidualisieren. Anderseits sollten gerade die, die über den zu einseitig
„gelehrten" oder „philologischen" Betrieb klagen, sich freuen, wenn von
Halle aus eine Reihe von Arbeiten veranlaßt werden, die bedeutende
literarhistorische Erscheinungen in einen größeren geistesgeschichtlichen Zu-
sammenhang stellen wollen, oder wenn in Marburg eine Reihe von
Einzelstudien die Technik des neueren deutschen Romans ausbaut. Aber
auch abgesehn von solchen gruppenweise auftretenden Dissertationen ist
an wirklich fördernden Arbeiten der jungen Gelehrten kein Mangel —
und Aberfluß daran ist nie gewesen!

Durchaus ungerecht aber ist es nun, von solchen Antersuchungen gleich
ein „allgemeines Interesse" zu verlangen. Sehr gut zerlegt man neuer-
dings die Museen in zwei Abteilungen: was für das „Magazin", für die
eigentliche Studienanstalt, höchst wertvoll ist, soll deshalb noch nicht in
die „Schauabteilung". Und dies gilt natürlich gerade wie für die Schüler-
arbeiten so auch für die große Masse der gelehrten Untersuchungen über-
haupt. Wir verlangen von euch so wenig, daß ihr unsere Untersuchungen
über Sprachgebrauch, Reimgebrauch, Abhängigkeitsverhältnisse einzelner
Dichter lest, wie eure Lieblinge, die Natursorscher, euch Spezialstudien ähn-
licher (und noch viel spezialerer) Art zumuten. Aber ihr wollt uns nicht
einmal erlauben, sie als Vorarbeiten für größere Werke, eigne oder sremde,
vorzunehmen! Geht da euer — wohlwollendes Interesse nicht etwas weiter
als nötig?

Ia, ist die Antwort — diese Arbeiten „ohne große Gesichtspunkte" ver-
derben den Betrieb überhaupt, nehmen den Iungen Lust und Kraft zu
Größerem (als ob alle unsere Studenten Neurastheniker wären!) und
schädigen das Ansehn der Literaturgeschichte. Gewiß — wie jede redliche
Arbeit von denen, die ihren Sinn nicht verstehn, immer verachtet worden
ist, so hat auf uns der große Karl Kraus in Wien — ich habe es seit heute
morgen schriftlich, daß das nächste Iahrhundert nach ihm heißen wird —
das Wort gemünzt, Literaturgeschichtschreibung sei Nnfähigkeit zum Iour-
nalismus; ein Wort so originell wie es seine Aussprüche fast alle sind,
denn es ist ja nur eine Variation der Wendung von den Iournalisten als
Leuten, die ihren Beruf verfehlt haben. Und gelegentlich sieht es wirklich
aus, als solle nicht die Alternative gestellt werden, ob philologischer oder
philosophisch-ästhetischer Betrieb unserer Wissenschast, sondern ob gelehrter
oder journalistischer. Nun, ich kann mit gutem Gewissen antworten, daß
auch die Kronzeugen der Anklage nicht zweifeln würden — am aller-
wenigsten trotz allem Spott aus die Stoffhuber Vischer selbst! Aber wir
können noch weitergehn und sagen: auch er, auch Hettner oder vollends

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