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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI Artikel:
Meyer, Richard M.: Krisis, Krach, Bankrott der Literaturgeschichte, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0245

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Hayin würden von den Fortschritten der philologischen Methode willig
Gebrauch machen, statt sie zu verhöhnen. Denn die neuere Methode beruht
nicht, wie die Kurzsichtigen meinen, auf Verengung des Gesichtskreises,
sondern im letzten Grunde auf seiner Lrweiterung. Zwei große Erkennt-
nisse sind der Literaturgeschichte, so gewiß sie auch schon gefühlt und früher
angedeutet wurden, doch erst in der neuesten Zeit selbstverständliche Vor-
aussetzungen geworden. Die eine — die wir gerade Scherer vor allem
danken — ist die von der inneren Äbereinstimmung des geistigen Lebens
über alle Trennung der Epochen hinweg: sie macht, daß wir überzeugt
sind, ohne eindringendes Verständnis des „Parzival" und des „Simplizis--
simus" sei auch der „Nathan" und der „Faust" nicht völlig zu verstehn.
Womit, um bequeme Verdrehungen abznschneiden, nicht gesagt wird, daß
man den „Nathan" schon besser als Werder und den „Faust" schon besser
als Vischer versteht, wenn man mittelhochdeutsch kann; wohl aber, daß
auch ihnen ein Studium der alten Texte förderlich gewesen wäre — und
daß jedenfalls wir, die wir weder Vischer noch Hettner, sondern eben
Meyer oder Nidden sind, diese Hilfe nicht verschmähen dürfen. Die zweite
fundamentale Erkenntnis ist die von den ungeahnt engen Zusammen-
hängen der Sprache mit der Dichtung, die bis zu völliger Abhängig-
keit des Dichters von den sprachlichen Verhältnissen seiner Zeit gehn kann;
und sie macht, daß eine literarhistorische Autersuchung oder Darstellung,
der das grammatische Fundament fehlt, nur durch die glücklichste Intuition
besonders begabter Interpreten vor der Gesahr oberslächlicher Schönrederei
zu retten ist. Und da wir wiederum auf diese nicht ohne weiteres rechnen
dürsen — wenigstens so lange nicht, als nicht unsere Kritiker ihre uns
zerschmetternde Äberlegenheit alle positiv dargetan haben —, so können
wir eben auf die philologische Methode nicht verzichten. Als man die
großen Dichter und die großen Werke noch jedes in einer Zplsnäiä isolakion
sah, kam man ohne die Hilfsmittel aus, die wir im Bewußtsein der
großen Verwandtschaft aller sprachlichen Schöpfungen nicht mehr entbehren
können.

Wir sind in einem Äbergang, und wir haben seine Mühen und Kosten
zu tragen. Aber so wenig die Naturwissenschaft sich an glänzenden neuen
Entdeckungen dadurch verhindern ließ, daß Brunetiore, als Begründer der
neuen Mode vom Todsagen einzelner oder aller Wissenschaften — von
ihrem Bankrott redete, so wenig wird die Wissenschast vom deutschen
Geiste sich durch eine Krisis im Weiterleben verhindern lassen, die höchstens
eine akademische, keinesfalls eine wissenschaftliche ist; und an der übrigens
noch ganz andere Kreise mitschuldig sind als die akademischen! Gerade
jetzt ist die deutsche Methode der neueren Literaturgeschichte auf einem
internationalen Siegeszuge begrifsen. In Paris wird gegen den trefs-
lichen Lanson förmlich Krieg geführt, weil er die ehrwürdige alte Sorbonne
in dieser Weise „germanisiere". In Amerika erhebt Chorey einen ver-
zweifelten Notschrei, die deutsche philologische Methode sei daran, die
französische zu verdrängen. Vielleicht tun wir Literarhistoriker für die Aus-
dehnung und, was wichtiger ist, für die Vertiefung deutschen Einflusses
in der gelehrten Welt doch auf unsere Art noch ebensoviel wie die, die
so rasch an der Hand sind, uns der Schädigung jener höchsten geistigen
Interessen zu beschuldigen, die wir mit Stolz gewiß nicht nur bei uns, aber
gewiß auch bei uns aufgehoben wissen!

Nichard M. Meyer

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