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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI Artikel:
Schmidt, Leopold: Ein Chopin-Buch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0249

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den Autor verrät, der mitten im Kunstleben steht und gewöhnt ist, sich mit
den Dingen kritisch auseinanderzusetzen. Betrachtet man diese Schriften
und den neuen „Chopin", so gewahrt man sofort, daß ihnen eine bestimmte
Darstellungsart gemeinsam ist. Man kann diese Art bemängeln, muß aber
zugeben, daß sie etwas durchaus Eigenes, vom Alltäglichen Abweichendes
hat. Weißmann schreibt nicht um zu schreiben, sondern offenbar nur über
Dinge, die ihn innerlich bewegen. Daraus folgen seine Vorzüge, die Prä-
gnanz und Lebendigkeit seines Stils; daraus folgt auch die unbekümmerte
Art, sich über vieles hinwegzusetzen, was der Leser vielleicht doch gern er-
zählt oder erklärt HLtte.

Stofslich gliedert sich das Buch in drei Teile. Im ersten zieht das Leben
Chopins in scharf beleuchteten Momentbildern an uns vorüber. Cin
kürzerer Mittelteil versucht das Rätsel seines Wesens zu lösen. Diesen
erzählenden und räsonierenden Kapiteln schließen sich analytische an, die
die Werke des Meisters, nach Gattungen geordnet, unter die Lupe nehmen.
Den Anhang bilden ein Werk- und Namenverzeichnis.

In keinem der drei Teile findet sich etwas Pedantisches, in keinem etwas
Planmäßiges. Die biographische Darstellung rundet sich zu keinem lücken-
losen Lebensbilde; so manches wird als bekannt vorausgesetzt, so manches
als unbeträchtlich beiseitegelassen. Nicht von Iahr zu Iahr und von Ort
zu Ort folgt man Chopin auf seinem Lebenswege, so wenig man chrono-
logisch in das Lntstehen seiner Werke eingeweiht wird. Alles Wesentliche
ist untergebracht; aber bald hier bald dort, sprunghaft und systemlos, nur
nach dem künstlerischen Bedürfnis des Versassers. Das ist kein Buch zum
Durchblättern und Nachschlagen; nur wer es als Ganzes genießt, hat den
Gewinn daran. Ein reiches Material ist unauffällig verwertet, die Ouellen,
im besonderen die Briefe, sind sorgsam benutzt, Irrtümer ohne viel Polemik
berichtigt. Der Verfasser sagt selbst: „Alles kennen, das Wertvolle als
Baustein benutzen, ist mein Leitspruch; die Brücke zu schlagen zwischen dem
Künstler und dem Menschen Chopin, beiden ihr Recht werden zu lassen,
ein weites Ziel." Der Horizont wird weit gespannt; die Zeitgeschichte und
der Kulturboden, auf dem sich die Ereignisse abspielen, werden mitein-
bezogen. Das Thema Chopin und das Polentum klingt beständig an und
wird mit feinem Verständnis behandelt. Ein glänzender Abschnitt ist die
Schilderung des Pariser Milieus, in dem Chopin zur Selbständigkeit reift;
originell und interessant die eingehende Charakteristik der George Sand,
deren Beziehungen zu Chopin selbst nur diskret gestreift werden. So liebe-
voll die Gestalt Chopins bis ans Ende gezeichnet ist, man hätte dennoch
gern aus den letzten Lebensjahren des Meisters mehr Tatsächliches erfahren
und bedauert hier mehr als anderswo die Enthaltsamkeit des Erzählers.

Der wertvollste Teil des Buches ist für mich der mittlere, der die Aber-
schrift „Zur Psychologie des Musikers" trägt. Man fühlt: er ist aus
Wahlverwandtschaft und eigenem Erleben entstanden. Hier weist Weiß-
mann mit Nachdruck auf die grandiose Einseitigkeit Chopins hin, die sich
nicht nur in seiner Beschränkung auf das Klavier, sondern in seiner ganzen
Konstitution zeigt. „Wir haben hier die stärkste geistige Isolierung, deren
ein Künstler fähig ist." Trotzdem Chopin als Harmoniker und Stilist einer
der ersten und stärksten Anreger, ein unmittelbarer Vorläufer Liszts und
Wagners ist, hat er doch nichts mit der literarischen Richtung der
Modernen zu tun. Man muß sich hüten, selbst in seine phantastischsten
Gebilde ein Programm hineinzutragen. Er bedurfte nicht nur der ge-

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