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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI Artikel:
Schmidt, Leopold: Ein Chopin-Buch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0250

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danklichen, außermusikalischen Anregung für sein Schaffen nicht, er lehnte
sogar wie kaum ein zweiter alles Stoffliche instinktmäßig ab. Und er
konnte es, weil das Lyrische, die Nervenempfindung der Grundton seines
Wesens ist. Lr war auch kein spekulativer Geist. Alles Kunstgeschwätz hielt
er für belanglos, und die Abneigung gegen das Wort trieb er bis zur
Idiosynkrasie. Obwohl sein Verhältnis zur Literatur ein äußerst platoni-
sches war, fehlte ihm jedoch keineswegs jener philosophische Zug, der den
Großen in der Kunst zu eigen ist, und manches Aper^u bezeugt seine all-
gemein-geistige Bedeutung. Die musikalische Lntwicklung zeichnet Weiß-
mann mit knappen, treffenden Worten. Wir sehen, wie Chopin zum Selbst-
bewußtsein erwacht, wie er sich die Errungenschaften großer Vorgänger
seiner Natnr gemäß zunutze macht und doch ein im höchsten Sinne Eigener
bleibt. Sein Lyrismus weist ihn auf die kleine Form; seiner Schöpfer-
kraft fehlt das Architektonische, aber er ersetzt es, seinen Zwecken ent-
sprechend, durch den fein ausgebildeten Sinn für Prosodie und die
Genialität seines Rhythmus. Sein natürliches Gebiet ist der Tanz. Das
Traum-Ich dieses Komponisten, den Nervenmenschen in ihm, dessen ge-
brochnen Willen und gelähmte Tatkraft in seiner Musik so deutlich das
charakteristische Rubato spiegelt, läßt die Darstellung lebendig vor uns er-
stehen. Schwermut ist Grundlage seines Schaffens. Aber mit Recht be-
tont Weißmann, daß diese Seelenstimmung allein nicht fruchtbar gewesen
wäre, daß zu ihr die Lnergie, der Kunstverstand des berufenen Musikers
treten mnßten, um Lhopins Größe zu begründen. Nur so begreifen wir
den Tondichter, der von jeher die Franen rührte, der aber auch MLnner
zur Begeisterung entflammt; nur eine solche Ausfassung kann seiner Be-
deutung gerecht werden. Mit einfühlenden Worten wird ferner von der
Erotik seiner Musik gesprochen, von jener unerfüllten Erotik des Lebens-
aristokraten, die in seine Werke strömte und all die Wunder schuf, vor
denen die Nachwelt noch heute staunend steht. Auch des bahnbrechenden
Pianisten, der, mehr als das Liszt in seinem Buche über ihn ahnen läßt,
die Technik des klassischen Klavierspiels ins Romantisch-Moderne um-
wandelte und kommender Generationen Vorbild wurde, wird nach Ver-
dienst gedacht. Kurz: es ist nicht leicht Erschöpfenderes und Innigeres
über Chopin geschrieben worden als in diesem Kapitel.

Die Analysen des Schlußteils werden natürlich nm so eher auf Wider-
spruch stoßen, je persönlicher sie gefärbt sind. Fragen des Geschmacks, des
Bildungsganges, der eigenen Veranlagung sprechen da mit hinein. Wer
aber der Ansicht ist, daß Analysen niemals objektive Gültigkeit haben
können, wird auch in diesem Abschnitt den Reiz des Persönlichen zu schätzen
wissen. Nm so mehr, als gerade hier die Kunst der Darstellung einen Höhe-
punkt erreicht. Man kennt die abgenutzten Klischees einer gewissen Ter-
minologie, die diesen Zweig der Musikliteratnr vor allem entwertet haben.
Weißmann vermeidet sie mit beinahe koketter Geschicklichkeit. In immer
nenen Wendungen weiß er poetische und sormale Merkmale der Kom-
positionen zu charakterisieren, und das scheinbar Nnbekümmerte seines
Stils gibt der Darstellung eine Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die man
in ähnlichen Arbeiten vergebens sucht. Wie er die Mazurken interpretiert,
ist ein hübsches Beispiel dasür. Den Walzern wird er wohl weniger ge-
recht, wenn er sie vorwiegend als Produkte der Einflüsse der Pariser
Salons betrachtet nnd das Nrmusikalische übersieht, das der Gattung einen
neuen, später unanshörlich variierten Typus aufprägte, Doch mag man
 
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