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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
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Malzan, E.: "Familientragödien"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0254

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auch häufig seiner Lrsparnisse wegen zur Ehe begehrt, so daß es seine
unvollkomrnenen Geschlechtsmerkmale erblich übertragen kann." Die zu-
nehmende Lhe- und Kinderlosigkeit wie die Hinausschiebung des Heirats-
alters und der Rückgang der Geburtenhäufigkeit wird durch diese wirtschast-
liche Begünstigung der Frauen mit vermindertem Mutterschaftstrieb ge-
steigert. Unser Wirtschaftsleben müßte also wenigstens die Ehemänner in
dem Maße begünstigen, wie es die Frauen benachteiligt, die ihren Haupt-
berus als Mutter nicht durch raubbaumäßige Ausnutzung ihrer Arbeits-
kräfte außerhalb des Hauses beeinträchtigen lassen wollen. Indessen geht
es auch den Lhemännern immer schlechter. Sie stehen in rücksichtslosem
Wettbewerb mit allen jüngeren und beweglicheren Kräften, und die Pro-
duktionsleiter in der Industrie handeln auch bei uns mehr und mehr nach
dem amerikanischen Grundsatz, möglichst nur noch Leute unter vierzig
Iahren zu beschäftigen oder wenigstens neu anzustellen. So ist Mutter-
schaft wie Vaterschast heute ost gleichbedeutend mit Geldverlust: die Frau
hört in dem Maße auf, Geld zu verdienen, wie sie Mutter ist, der Mann
verdient um so weniger, je mehr er Vater ist. And von allen Seiten
werden sie obendrein belastet. Der Verheiratete zahlt mehr Miete und
Schulausgaben als der Iunggeselle.

Die Familie ist ein Kleinbetrieb. Die Lntwickelung des kapitalistischen
Wirtschaftssystems hat die Neigung, alle Kleinbetriebe auszuschalten. So
ist der Segen des „trauten Herdes" heute für die ärmeren Volksschichten
ebensosehr Sage wie der „goldene Boden des Handwerks". Aus den Söhnen
unserer Bauern und Handwerker werden Proletarier, aus ihren Töchtern
Proletarierinnen, Arbeitsbienen, oder gar — Prostituierte. Man macht,
mit Recht, heute viel Aufhebens von Schülerselbstmorden, aber warum
finden die viel häufigeren Mütterselbstmorde weniger Beachtung? Wenn
Schülerselbstmorde als Anzeichen dafür gelten, daß unser Schulwesen
resormbedürstig ist, weshalb scheut man sich, aus Mütter- und Väter-
selbstmorden sowie aus Kindermißhandlungen auf eine dringende Reform-
bedürftigkeit der Familie oder der Zusammenhänge zwischen Familie und
Gesellschaft zn schließen?

Der Staat bewahrt die Familie ebensowenig wie das Handwerk vor
Verfall. Unsre Gesetzgebungsstellen stellen kühl fest, daß sich die Bande der
Familie lockern, daß die verwandtschastlichen Gefühle sich „verslüchtigen",
leiten aber daraus keine Verpflichtungen für den Staat ab.

Freilich: darüber müssen wir uns klar sein: die Familie in ihrem
überkommenen Zustande erhalten wollen, das hieße, auf alle Errungen-
schasten des Maschinenzeitalters verzichten. Hier ist ein hartes Lntweder-
Oder. Die Familie kann als Wirtschastsorganismus nie wieder das
werden, was sie einst war, da fast alle Familienväter Produktionsleiter
und alle andern arbeitsfähigen Familienmitglieder Gehilsen ihres Ober-
hauptes waren. Wohl wird die Kleinfamilie im Bereiche der Land-
wirtschaft immer eine wichtige Rolle spielen, so daß ihre Erhaltung
in um so größeren Umfänge gewährleistet ist, je mehr Einzelschicksale im
Volke durch vernünstige innere Kolonisation wieder mit der Urproduktion
unmittelbar verknüpst werden. Das Familienleben ist ja an und für sich
dem landwirtschastlichen Leben verwandt; es hat, wie dieses, Arbeit an
Organischem zu leisten, und zwar solche Arbeit, bei der technische Hilfs-
mittel nur eine untergeordnete Rolle spielen, bei der nichts so wichtig ist
wie die persönliche Sorgfalt des Arbeitenden. Aber selbst im landwirt-
 
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