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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0295

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sirrd, die Bühne mehrere Stunden
zu beleben, so wurde es gerade dnrch
diese zurn großen Teil vortresfliche
Aufführung bewiefen. Wohl hat
dieser ernste und achtungwürdige
Poet jene innere Kraft, welche, in
einzelnen Auftritten aus unbekann-
ten Tiefen hervorbrechend, ihnen
nach langer Abspannung plötzlich
noch bezwingende Süße oder atern-
raubende Glut verleiht, gerneinhin
Herz, Gefühl, Gemüt genannt. Ansre
Leser finden eine solche wunderschöne
Szene am Ende des zweiten „Er-
eignisses", den opferrnutigen Ab-
schied der entsagenden Violäne, ans
den „Losen Blättern" dieses Hefts.
Aber jene Ausbrüche sind gesät über
ein weites Feld innerlich halblauter,
vielleicht wohlabgestimmter aber in
ihrem Zusammenklang doch rnacht-
loser Worte. Es gibt Viertelstnnden
in dem Werk, wo die Worte nieder-
gehen wie erfreuender aber lauer
Landregen, es gibt manche Fünf-
minutenstrecke, wo man die Ohren
schließen dürfte, ohne das Verständ-
nis der Bühnenvorgänge zu ver-
lieren; man kann nach dem zweiten
Lreignis weggehen und wird nicht
wesentlich unbefriedigter sein als
etwa nach dem dritten oder nach
dem Schluß. Äbersetzt in die Sprache
der Kritik bedeutet dies, daß Clau-
dels „Verkündignng" nahezu alles
fehlt, was bisher ein dramatisches
Werk ansmachte. Ihre Rollen sind
so wenig Gestalten, wie die Sänger-
rollen eines Oratoriums, der Auf-
bau ist nicht mehr Bau, als ein
Scherbenberg vor der Stadt. Die
Schanspieler haben zu wenig in der
Hand, um daraus ein menschhaftes
Wesen von Umriß und Gehalt zu
machen, sie helsen sich mit Stimm-
und Gebärdenaufwand mühsam über
lange Strecken bloßer Rezitation hin.
Selbst die einzige erdenhast wurzel-
sichere Gestalt, Mara, die dunkel-
herbe Verdrängerin und Mörderin
ihrer gottseligen Schwester, wird hie

und da zum Schemen, selbst die
außerordentliche Kunst, die fleischge-
wordene Urgestalthaftigkeit einer
Mary Dietrich vermochte auf man-
cher Strecke diese Rolle nicht zum
Leben zu bringen. Auch ihr wunder-
volles Geständnis am Schluß, das
in den Worten gipfelt „Ich habe
nichts gegen Gott. Aber er bleibe
wo er ist!" tragen die solgenden
Wellen der lau philosophischen Ab-
handlungen wieder ohne Nachwir-
kung davon. Bedenkt man, daß
unsre Ausführung schon stark gekürz-
ten Text gab, so vermag man sich
die Unwirksamkeit einer ungekürzten
Wiedergabe des Werkes nur mit
Mühe vorzustellen.

Die Ausführung selbst erhob in
der Theorie ihrer Veranstalter nicht
gewöhnliche Ansprüche. „Neue, wich-
tige Ausdruckkräfte" sollten erprobt
werden,- man gab sich der Täuschung
hin, daß man im Tessenowschen
Saale „keine der gegenwärtigen Büh-
nenersahrungen verwerten" könne,
wiewohl Bühnenkundige wohl in
jedem „Ereignis" eine ganze Menge
solcher Erfahrungen wiederfanden.
Man „verzichtet", so heißt es, „auf
einen Bühnenausschnitt, nimmt viel-
mehr den Saal, Zuschauer und
Spielraum, als ein Ganzes, 'Ein-
heitliches, nur durch das Spiel vom
übrigen Geschiedenes, läßt alles weg,
was als Landschaft, Zimmer oder
als sonstwie konkret gedachter Schau-
platz im Zuschauer Assoziationen
wachrufen oder Stimmung erzeugen
soll, und arbeitet einzig und allein
mit den hier gegebenen ganz ele-
mentaren und daher auch ganz ab-
strakten — das Konkrete ist immer
ein Zusammengesetztes — Mitteln,
dem Raum mit seinen Niveauunter-
schieden, seinen Wage- und Senk-
rechten, der Farbe und dem Licht.
Ist ein Schauplatz in genauerer Cha-
rakteristik notwendig, wie beispiels-
weise im dritten Akt der Wald, so
wird nicht versucht, den Wald wieder-

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