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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0296

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zugeben, sondern den Eindruck des
Waldes, dieser gewaltigen Orgel auf-
ragender Senkrechter mit dern da--
zwischenspielenden Licht." Es dürste
schwer sein, die Zusammenhänge die-
ser Inszenierungart mit der Shake-
sperebühne und andren modernen
Versuchen zu verkennen; so schwer wie
etwa zu verkennen ist, daß wenn man
— was in Hellerau mit Anklängen
an Reinhardts „Sommernacht-
traum" geschah — den „Eindruck" des
Waldes wiederzugeben versucht, daß
man dann eben doch im Zuschauer
jene verpönten „Assoziationen" her-
vorrust. So ging es denn auch sonst,
das Wort streng genommen, kei-
neswegs ohne solche Illusionismen
ab. Und so ruhig und störunglos, so
bildhaft angenehm die puristische
Theaterkunst alles in allem in
Hellerau auch wirkte — mir ist nicht
einen Augenblick zweifelhaft, daß
eine großzügige, in modernem Stil
gehaltene Inszenierung eines größe-
ren Theaters, welches Garten und
Sonnenschein, weite Blicke und Win-
ternacht technisch vornehm heraus-
bilden kann, gerade dem Stück Clau-
dels tragfähigere Stützen leihen
würde.

Ienseits der berechtigten Ableh-
nung, die Claudels Mysterium als
Theaterstück fand, steht das Werk
alsDichtung, die ja vielleicht bewußt
aus alle jeneWirkungen verzichtet. Als
solche erweist sie sich als ein Zeug-
nis derselben Reaktion gegen den
künstlerischen „Realismus", welche in
der Malerei die „Primitiven" schon
seit einigen Iahren verwirklichen.
Schlicht gläubige und schließlich bis
zum Erlebnis des Wunders und zur
Weisheit der Erfahrung gesteigerte
Linsalt ist der Grundzug der Gestal-
ten. Violäne, die engelgleiche Toch-
ter des Pilgers Andreas, küßt aus
herzinnigem Mitleid einen srommen
aussätzigen Baumeister; so nimmt sie
das Leiden auf sich, das den ihr
zugedachten Gatten verscheucht und

sie ins Elend stößt. Iakobäus, der
enttäuschte Gatte, nimmt, nun er
Violänen für verrucht hält, ihre
Schwester Mara zum Weibe. Nach
Iahren gebiert Mara, und ihr ge-
storbnes Kind trägt sie verzweifelt zu
Violäne, die als erblindete Aus-
sätzige trotz heimlich starker Liebe zu
Iakobäus ein heiligmäßiges Leben
führt. In der Weihnacht gelingt
es Violänes Frömmigkeit und
Maras wildem Wunsch, das Kind
wiederzuerwecken, aber an Violänens
Brust; Violäne hat es neugeboren
aus der Liebe zu Iakobäus und zu
Gott. Des Kindes Augen, vorher
braun, gleichrn nun den blauen Vio-
länens. Mara erkennt jetzt die
immer noch währende sieghast ver-
göttlichende Liebe der Schwester und
tötet sie in rasender Eifersucht auf
Iakobäus. Das ist das Schema der
Vorgänge. Der einzige schrosfe
Gegensatz des Werkes ist der der erd-
gebundenen Maranatur zu der srom-
men, milden, himmelan gerichteten
Innigkeit ihrer Eltern, ihrer Schwe-
ster, ihres Gatten. Er hat zwei starke
Austritte gezeitigt, die stärksten des
Werkes: Maras Flehen um die Wie-
dergeburt des Kindes und Maras
Bekenntnis zu Mord und Gottlosig-
keit aus übergroßer irdischer Liebe.
In diesen wird echtes Gestaltleben
mächtig, sie sind die Lrschütterungen,
welche uns von der Darstellung im
Gedächtnis bleiben werden. Die srom-
men Gespräche und die mystischen Er-
eignisse scheinen mir um Beträcht-
liches dahinter zurückzubleiben, ihre
Fügung und ihr Aufbau ist unsiche-
rer, ihr Tiefgang geringer. Wohl geht
der Reiz alter Legenden, wohl der
Klang schöner alter Weisheitsprüche
öster von ihnen aus, aber er ist manch-
mal verdünnt bis zur Nnkenntlichkeit,
er wird öster abgelöst von dem ge-
heimnistuerischen Klang bloßer schö-
ner Worte. Zu den legendenhaft ge-
schlossenen Teilen gehört der Ab-
schied der aussätzigen Violäne von

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