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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 4 (2. Novemberheft 1913)
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Avenarius, Ferdinand: Freideutsche Gesinnung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0329

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allen. Da empfand man's: das Bekennen und Suchen der Älteren
ward umsungen aus dem Munde der Iüngsten von den Hochgefühlen
der Gewesenen, die im Liede noch weiterlebten. Das Heute gesegnet
vom Einst. Und alles deutsch. Drinnen der Streit, draußen das Lied,
und es war doch eine Einheit. Sie mußten sich ja wohl finden.

G

Und sie sanden sich auch. Daß man das Linigende unter sich nicht
sogleich sah, sonderbar, das bedeutete in all seinem Humore das Schönste.
Die Iüngsten, von 'den Vierzehnjährigen ab, waren zwar spärlich und
nur unter guter brüderlicher Hut, die Mehrzahl auch der Mädchen war
um die zwanzig herum, die Führer waren Studenten der hohen Semester
oder sie hatten schon ausstudiert — immerhin, von den „Wandervögeln"
bis zu den „akademischen Freischaren" waren's junge Menschen. Ver-
ehrlicher Leser, nun denke dran, wie junge Menschen der „Gesellschaft"
sonst mit den Körnchen austrumpsen, die sie etwa gesunden haben. Diesen
„Freideutschen" nun schien gar nicht mehr bewußt, war ganz selbstverständ-
lich geworden, was sie von der Iugend üblichen Schlages unterschied —
keiner kam darauf, es für wichtig genug zu gemeinsamer Grundlage
einer Verständigung zu halten. Daß man aus großen Weiten, selbst
aus Osterreich und der Schweiz hierher zusammengekommen war, wo
doch nichts „geboteu« ward, als Wald und Wiese und wieder junge
Menschen, daß man vierter Klasse fuhr und dann, alles im Rucksacke

bei sich, nur „tippelte«, daß man auf Heuböden oder auf Strohsäcken
schlief, daß es weder Wein oder Bier noch gar Schnaps und weder

Zigarren noch Pfeifen gab, daß Linsensuppe und ein paar Nudeln den
höchsten Festmahlsrang einnahmen, daß hier Iugend heilfroh war beim
Singsang nach einfachen Reigen, daß man im schlichtesten Kittel oft

barfuß ging — kurz: daß man in einer Zeit der fortwährenden Luxus-

steigerung zur Einsachheit, zur Natürlichkeit kam und ihrer mit höchstem
Frohsinn genoß, das verstand sich dieser Iugend schon ganz von selber.
Daß nach dreitägigem Treiben von rund zweitausend Menschen auf den
Festwiesen kein Blatt Papier herum lag, daß nirgends ein Fleck be-
schmutzt und nichts an Busch und Baum beschädigt war, daß bei der
unvergleichlichen Fröhlichkeit nie ein Gekreisch, nie auch nur ein Geschrei
zu hören war, daß keiner je die Zucht über sich verlor, daß der Sinn
für Anstand, Reinheit und Ordnung allen schon, sagen wir: immanent war,
davon machte keiner auch nur das geringste Aufheben. Du mochtest
an irgendein Grüpplein treten und konntest gewiß sein, auch feine geistige
Interessen zu finden, wie ja beispielsweise die Wandervögel zum Mit-
erleben der Heimat auch in Kunst und Geschichte erziehen. Auch das
verstand sich allen von selbst. Ebenso wie die Fürsorge der Alteren für
die Iüngeren, wie bei freiestem Kameradenverkehr die Achtung vor dem
anderen Geschlecht, wie das Sich-Ein- und Unterordnen des Einzelnen
ins Ganze. Daß es Ausnahmen geben mag, bezweifle ich keinen Augen-
blick, obgleich ich in fünf Tagen dort und drumherum keine gesehen habe.
Gibt es bei der streng überwachten Erziehung durch Vorgesetzte keine

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