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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 4 (2. Novemberheft 1913)
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Schmidt, Leopold: Das Totenfest in der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0337

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sie zu allen Zeiten ihr hat angedeihen lassen. Die Kunstgeschichte des
Mittelalters, sür dessen Volksmusik uns die Quellen so gut wie verschüttet
sind, erschöpft sich in der Darstellung von dem Keimen und Aufblühen
einer Kunstmusik, die zum mindesten an ethischem Gehalt von keiner
übertroffen wurde. Es gelang der künftlerischen Phantasie, sogar das
stoffliche Substrat der Dogmen einzufangen und in der Messe zu musi-
kalischen Werten umzuprägen. In der Leidensgeschichte des Herrn aber
bot die Kirche dem Musiker einen nur ihr eigenen Darstellungsstoff von
weittragender Bedeutung. Neben den Iubel- und Dankeshymnen, den
Bittgesängen und musikalischen Zelebrationen der Messe hat sich die Kar-
freitagsmusik zu einem besonders wichtigen Zweig der Kirchenmusik ent-
wickelt, der im Laufe der Iahrhunderte reiche Früchte getragen hat. Wir
fassen diese heute unter dem Namen der Passionsmusiken zusammen.

Nächst dem Karfreitag aber ist der Totensonntag ein wichtiger Tag
des musikalischen Kirchenjahres. Die Totenklage im weitesten Sinne (Toten-
messe, Kantaten und freie Hymnen) ist zu einer typischen musikalischen
Ausdrucksform geworden, und noch heute wirft die ernste Stimmung des
Totenfestes alljährlich ihre Schatten auf das musikalische Leben. Um
diese Zeit tritt dann gewöhnlich auch die Chormusik so recht an ihren Platz.

Der Totensonntag ist aber nicht nur für die musikalische Liturgie von Be-
deutung. Lr läßt weite Kreise des Volkes den Blick zugleich rückwärts und
vorwärts wenden; mit dem Gedächtnis der Toten verbindet sich ganz von
selbst der Gedanke an das Ienseits und die Nnsterblichkeit. Daher konnte
die Musik aller Zeiten, auch außerhalb der Kirche, aus dem fruchtbaren
Motiv unermeßlichen Reichtum schöpfen. Keiner jedoch hat so wie Bach
an den verschlossenen Pforten gerüttelt, hat so wie er sich immer und
immer wieder in die Betrachtung der letzten Dinge versenkt. Die Dicht-
kunst und der Geschmack seiner Zeit kamen seinem eignen tzange entgegen.
So konnte er uns, namentlich in seinen Kantaten, einen Schatz hinter-
lassen, der bedürftigen Gemütern über alle dogmatischen Vorstellungen
hinaus eine Ouelle des Trostes und tiefinnerster Anregungen ist. Alle
Töne der Wehmut, der Zuversicht, ja fast trotziger Freudigkeit klingen
in seine Todesweisen hinein. Eine der schönsten Selbstberuhigungen, ein
Seitenstück zum Schlußchor der Matthäuspassion, ist die Solokantate „Ich
hab genug". Von Oboe, Orgel und Streichinstrumenten milde begleitet,
bringt sie in dem Satze „Schlummert ein, ihr müden Augen" ein er-
greifendes, unsagbar wohllautendes Wiegenlied, das den Hörer wie mit
weichen Armen umfängt und leise in seinen Frieden zkeht. And wer
kennte nicht die wundervolle Altkantate „Schlage doch, gewünschte Stunde",
die mit volkstümlicher Schlichtheit und Naivität (sogar das Glockenspiel
ist zur Versinnlichung der poetischen Vorstellung mithineingezogen) so
viel Tiefe des Ausdrucks verbindet? Hier hat der Glaube des Tondichters
alle Schrecknisse des Todes überwunden, und das Gefürchtete ist dem
Erlösungssichren zum Gegenstand der Sehnsucht geworden! Es ist rührend
zu sehen, wie Bach sich immer und immer wieder mit dem Todesgedanken
beschäftigt, ihm immer wieder neue Seiten abgewinnt und nicht ruht,
bis er sich zu völliger innerer Nnabhängigkeit durchgerungen hat.

Wie dieser Bachsche Kantatenschatz, so dienen uns Modernen auch die
beiden bedeutsamsten Totenmessen immer häufiger dazu-, das Totenfest
musikalisch zu verklären. Das „Deutsche Requiem« von Brahms, das so
glücklich den altgewohnten lateinischen Kirchentext durch allgemein ver-

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