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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 4 (2. Novemberheft 1913)
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Servaes, Franz: Wiener Kunst: ein Brief an den Herausgeber
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0343

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Zu solch krankhaften Lrscheinnngen und exaltierten Verirrungen drängt
die Reaktion wider die rein nach dem Publikumsgeschmack organisierte,
von der Gesellschaft begönnerte und wie in Pfründen festgesessene Mittel-
und Unterschicht. Das Bedauerliche ist, daß auf beiden Seiten Talent
sitzt, das sich nnfruchtbar verbraucht. Wie die einen durch flache Liebens-
würdigkeit und schale Pikanterie, vor allem aber durch Mangel an männ-
licher Aufrichtigkeit die Kunst herabziehen, so drohen die anderen durch
ihre Verrücktheiten und Barbarismen den Geschmack völlig zu verwirren
nnd zu verwildern. Die einen halten sich nur ans Hergebrachte, das sie
in femininer Weise zu versüßlichen trachten; die anderen erklären jeg-
licher Aberlieferung, auch der notwendigen, den Krieg und verfallen, um
nur ja nicht für Mönlich zu gelten, in einen zügellosen HLßlichkeits-
taumel. Soll man seine Wahl treffen, so wird man ja immerhin für die
Frondierenden sich entscheiden müssen, weil diese in all ihrer programma-
tischen Absurdität doch Möglichkeiten von Wachstumskeimen darbieten,
die, wenn sie aus ihrer starken Gärung zur Klärung gelangen, vielleicht
Kunstsormen und ein paar Künstlerpersönlichkeiten hervorbringen können.
Freilich wird es dann unbedingt notwendig sein, daß, mit Opferung
aller extremen Dogmatik, irgendwie ein Anschluß an Vorhandenes, also
an die so verpönte Tradition, genommen werde. Denn wenn von den
zwei Mächten, die wie Szylla und Charybdis diese gegenwärtige Knnst-
entwicklung in Osterreich bedräuen, eine immerhin noch sich soll fruchtbar
machen lassen, so ist es gewiß nicht die Modesucht, sondern der Respekt
vor der Tradition. Dieses ist ja an sich ein sehr gesundes Prinzip und
wird verdammenswert bloß dort, wo es sich als Haß und Mißtrauen
wider alles aus dör Zeit geborene Neue gebärdet. Diese Vertrocknung,
Verholzung und unfruchtbare Einengung, die aus einem ausschließlichen
Vergangenheitskultus entspringt, muß bekämpft werden — nicht aber die
Vergangenheit selber, so weit sie fruchtbergende Keimfäden belebend in
unsere unmittelbare Gegenwart sendet. Tradition an sich ist eine gute
Sache und der Mutterboden aller gesunden Entwicklung — sie muß eben
nur die Fortentwicklung wollen, und nicht etwa zu unterbinden be-
strebt sein. Und in diesem Sinne ist sie doppelt wertvoll in Wien,
das eine so reiche Aberlieferung und so viel wahrhaft-künstlerisch schätzbare
Lokaleigenschaften hat. Darum sind die wahrhaft starken und fruchtbaren
Talente, deren Wien sich erfreut, keineswegs traditionsfeindlich, vielmehr
bewußt-wienerisch und genährt mit allen Säften und Fruchtkeimen, die
dieser wunderbaren Stadt entsteigen, umfächelt von den weichen, milden
und wohltuenden Lüften, die von dem Strahlenkranz sanft geschwungener
Berge ringsher in die Stadt wehen. Dies zeigt sich in der Malerei und
Plastik sowohl wie auch in der dekorativen Kunst und Architektur. Alle
diese Kunstzweige, so lebhafte Fühlung sie mit den auch anderwärts sich
hochkämpfenden Ideen und Ausdrucksnotwendigkeiten der Zeit unterhalten,
sind doch in ihrem spezifischen Charakter echt-wienerisch, das heißt von
örtlicher Aberlieferung genährt. Diese Gruppe lebendig schaffender Künstler,
die, aus allen „Lagern" sich vereinigend, sich vor etwa Iahresfrist in dem
unter Klimts Präsidium stehenden neuen „Künstlerbund" zusammenge-
schlossen haben, bilden die Hoffnung der österreichischen Kunst. Es mögen
einige noch außerhalb stehen, es mögen auch andere sich eingefunden
haben, die wieder auszumerzen wären, aber im wesentlichen ist hier die
Organisation, der wir für die Zukunft der österreichischen Kunst am ehesten

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