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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0545

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volles, höchst kluges und umsichtiges
Theaterstück geworden, das vor lauter
Menschlichkeit und Unparteilichkeit,
vor lauter abgewogener Verstandes-
gerechtigkeit und weltmännischer Auf-
geklärtheit nicht den Weg in jenes
Land des goldenen Äberflusses fin-
det, wo allein das volle, ganz von
einer Empfindung volle Herz den
Dichter macht. Zugegeben, daß hier
die englische Arbeiterschaft mit ver-
blüffendem Realismus dargestellt ist;
zngegeben, daß der Zusammenprall
zweier eiserner Naturen, des ehern-
zähen Kapitalisten nnd des nicht min-
der starrköpfigen Arbeiterführers, mit
einer Wucht erfolgt, die mehr als
theatralisch, die sogar innerlich dra-
matisch genannt werden muß; zu-
gegeben selbst, daß in dem tragisch
durchgeführten Gedanken, wie alle
Toleranz, alle Versöhnlichkeit im
Kampf der Stände und Interessen
durch die starrsinnige Unduldsamkeit
der beiderseitigen Parteiführer zu-
nichte wird, eine über die realisti-
schen Linzelvorgänge hinausgehende
allgemein-menschliche Bedeutsamkeit
steckt — das alles kommt doch nicht
recht über die mittlere Temperatur
einer sozialethischen Diskussion hin-
aus. So dankenswert solche Lrörte-
rungeu sind, so fruchtbar sie vielleicht
sogar für das tätige Leben werden
können, daß er daran stets denkt,
läßt das Stück so eigenartig englisch
erscheinen —, das Feuer, die heilige
Flamme suchen wir vergebens, und
Lrschütterungen unseres Innersten
werden wir bei diesem Korrekten nur
spärlich erleben, auch wenn er sich
überwinden könnte, in die Lharakter-
und Seelengründe seiner Gestalten
hinabzusteigen, statt mit einer schier
französisch anmutenden Liebe für
Clous „große Szenen" aufzubauen.
Die große Massenstreikszene ist voller
Farbe und Schmiß, aber aus all den
vielen löst sich — man denke an
Hauptmann! — kein einziger los,
zu dem die Brust sich hindrängt wie

zu einem Freund und Bruder, mit
dem man nach Hause geht, zu Weib
und Kind, um mit an ihrem kargen
Herde zu sitzen und Hunger und Trä-
nen mit ihnen zu teilen.

Bernard Shaw, den wir als
Allerweltsspötter, -skeptiker und -iro-
niker schon für ewig unverbesserlich
hielten, ist nun doch auch vom Luft-
trapez ins Parterre hinabgestiegen.
Er hat seine Stacheln und Wider-
haken bis auf ein paar winzige harm-
lose Nesselfäden abgetan und sich
ganz dem eommon sons, dem soliden
Ehrgeiz, ein solides, erheiterndes und
befriedigendes Theaterstück zu schrei-
ben, in die Arme geworfen. Ein Lon-
doner Professor, eiu Spezialist der
Linguistik und Phonetik, findet im
Schmutz der Straße ein verlottertes
Blumenmädchen, dessen Verkommen-
heit ihm, dem Hellhörigen, der aus
der Dialektfärbung jede einzelne sei-
ner Charaktereigenschaften entnehmen
zu können glaubte, allein aus der
unkultivierten Sprache über allen
Zweifel feststeht. Trotzdem ist der
Hochmut seiner Gelehrsamkeit groß
genug, um eine Wette einzugehen:
innerhalb dreier Monate werde er
aus dieser Gossenpflanze kraft seiner
unfehlbaren Sprachausbildungsme-
thode mit ein wenig Anstandslehre
und ein paar eleganten Kleidern eine
„Herzogin" machen, die auch auf der
exklusivsten Garden-Party jeder für
voll nehmen solle. So störrisch sich
das Versuchsobjekt anfangs anstellte,
Mr. Higgins gewinnt seine Wette
und glaubt nun, seines Triumphes
satt, Llize Doolittle nach Hause
schicken zu können. Aber er hat
seine Rechnung ohne das Weib, ohne
den Menschen gemacht, der unter
dieser verwahrlosten Hülle schlum-
merte oder bei der Dressur zur Dame
miterwacht ist. Die Galathea, die da
zum warmen Leben gelangt ist, for-
dert ihre Menschenrechte. So ein
Geschöpf ist doch mehr als eine bloße
Kreatur gelehrter Experimentier-
 
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