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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0559

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wurde. Professor Cohn-Freiburg be-
richtete über die Verhältnisse in Ba-
den, wo die Mädchengymnasien feh-
len; die begabtesten Mädchen werden
dort in die Knabenschulen eingereiht,
ohne daß es zu sittlichen Rnzuträg-
lichkeiten oder zu allzu großen Diffe-
renzen der Leistungen gekommen
wäre. (Freilich muß man im Auge
behalten, daß hier eine geistige Aus-
lese der Mädchen mit den Durch-
schnittsknaben zusammenarbeitet.)
Fräulein Bäumer wies auf die Not
der gebildeten Familien in kleinen
Städten hin, die ihre Töchter zum
Zweck einer besseren Schulbildung
nach auswärts geben müssen. Die
Scheu vor einer solchen Störung des
Familienlebens schreckt viele geradezu
davor ab, sich in Kleinstädten anzu-
siedeln. Frau Kämpf und Fräulein
Ohnesorge betonten die entsprechende
Forderung für die unteren Stände:
die gedrückte Lage der weiblichen
Arbeitskräfte gehe zum großen Teil
auf ihre geringere Ausbildung zu-
rück; darum sollten, solange es noch
nicht eigene Mädchenfortbildungs-
schulen gäbe, die Knabenfortbildungs-
schulen den Mädchen geöffnet werden.

Gewiß stehen der Koedukation
große Schwierigkeiten entgegen. Es
sind nicht in erster Linie sittliche Be-
denken, die man früher offenbar über-
schätzt hatte. Wohl aber wird die erst
jetzt mehr gewürdigte psychische Ge-
schlechtsverschiedenheit einen beiden
Geschlechtern gleich angemessenen
Lehrgang sehr erschweren. Sodann
aber würde der in gewissen Epochen
zweifellos langsamere Entwicklungs-
fortschritt der Mädchen bei durch-
gängiger Koedukation eine unver-
kennbare Beeinträchtigung der Kna-
benerziehung bedeuten. Daher wird
die Koedukation als Ideal letz-
ten Endes abzulehnen sein. Aber
jene Bedenken sind nicht so groß, daß
sie nicht andern schwereren Gefahren
gegenüber (Anmöglichkeit guten Un-
terrichts sür die Mädchen, frühe Tren-

nung der Kinder vom Hause) zurück-
treten dürften: Koedukation als
Notbehelf sollte daher in noch viel
weiterem Maße als bisher zuge-
lassen werden. So besteht z.B. in
Preußen kein Grund, die für Aus-
nahmefälle gestattete Aufnahme von
Mädchen in Knabenmittelschulen nicht
auch auf höhere Schulen auszudehnen.
tzosfen wir, daß dies.deutlich hervor-
tretende Resultat des Kongresses bald
zu entsprechenden Maßnahmen der
Behörden führen möge.

Der Kongreß hatte aber noch ein
zweites Ergebnis, das sich zwar nicht
so einsach in Formel und Forderung
umsetzen läßt, dafür aber einen um
so höheren ideellen Wert zu haben
scheint: Der Llterninstinkt ist
wach geworden und hat ausbegehrt
gegen die geringe Schätzung, welche
häusliches Leben, Familien-
erziehung, Mütterlichkeit ge-
rade bei so vielen Modernen und
Reformern erfahren. An zwei ganz
verschiedenen Stellen brach diese
Stimmung durch.

Aus der Studententagung hatte
Gustav Wyneken und seine Iünger-
schar die „freie Schulgemeinde", die
Kameradschaft der Lehrer und der
Schüler, als das Schulideal der Zu-
kunft gefeiert. Ich meinerseits prote-
stierte gegen jene stillschweigende
Ausschaltung des Elternhauses, ge-
gen die Annahme, als habe dieses
seine Erziehungsrolle ausgespielt und
sei voll ersetzbar durch die Schule.
Daß soziale Verhältnisse und Aus-
wüchse der Äberkultur die Lrzie-
hungsfähigkeit der Eltern verringert
und das harmonische Verhältnis zwi-
schen Eltern und Kindern getrübt
haben, soll nicht bestritten werden;
aber diesen schmerzlichen Zustand soll
man nicht als ein Fatum ansehen,
sondern als eine Mahnung für die
Eltern. Wyneken sprach von den
neuen Instinkten, die sich in der Be-
wegung der „Iugendkultur" und der
freien Schulgemeinde regen; ich sprach

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