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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
DOI Artikel:
Richter, Georg Martin: Meisterwerke des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0601

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Die Gotik war fast ausschließlich Raumkunst. Aber auch die Renais-
sance blieb trotz der wunderbaren Entwicklung der Malerei wesentlich
eine raumkünstlerische Bewegung. Bis zu welcher Lußersten Konsequenz
sich das plastische Empfinden damals durchbildete, wird ersichtlich, wenn
man zum Beispiel das berühmte Salzfaß des Benvenuto Cellini in Wien
betrachtet, oder auch solche Arbeiten wie den Berliner Pastigliakasten *
des Berliner Kunstgewerbemuseums und die Kassette des Antonio Barile,
die im Rathaus zu Siena aufbewahrt wird (Beil. S. 5). Besonders
an der Sieneser Kassette kann man sehen, bis zu welchem Grade es möglich
ist, einen Gebrauchsgegenstand mit künstlerischem Leben zu ersüllen. Hier
ist alles auf die plastische Wirkung gestellt, und das Verhältnis der
einzelnen Teile zueinander überzeugt, wie bei einem organischen Wesen.

Die ersten Künstler, die schlichte Tonkrüge mit primitiven geometrischen
Ornamenten verzierten, gaben vielleicht nur einem spielerischen Triebe
nach. Aber dieser Weg führte zu den Wunderwerken der klassischen
Kunst. Scheinbar haben alle diese unzähligen Generationen von Künstlern
nur den Wunsch gehabt, das Leben zu schmücken. Doch indem sie nur zu
schmücken glaubten, erfüllten sie die Welt, die sie umgab, mit einem unge-
ahnten geistigen Leben. Und dies, scheint mir, ist das Kriterium der
künstlerischen Meisterschaft: wie weit es dem Künstler gelingt, den Stoff,
den er formt, mit blühendem Leben zu erfüllen und zu durchgeistigen.

In den Werken der griechischen Antike durchdringen sich diesinnlichen
und geistigen Elemente in wundervoller Harmonie. Das niederländische
Barock und das sranzösische Rokoko sind Phasen einer vorwiegend sinn-
lichen Kunstgestaltung. Von der Gotik aber muß man sagen, daß sie eine
schlechthin geistige — oder geistliche — Kunst gewesen ist. Den gotischen
Baumeistern ist es gelungen, aus toten Steinen Gestalten zu schaffen, die
das lebendige Abbild einer ekstatischen Seele sind. Aus diesen Steinen
spricht eine geistige Kraft, die die Materie überwindet, und diese Kraft
äußert sich ebenso wie in den gewaltigen Kathedralen in den reizenden
Arbeiten der gotischen Kleinkünstler. Als Zeugnisse führe ich an die
Tiefenbronner Silbermonstranz und den Eorvinuspokal, den König
Matthias von Rngarn M2 zum Gedächtnis des in Wiener-Neustadt mit
Kaiser Friedrich III. abgeschlossenen Friedens dieser Stadt geschenkt hat.
Die Tiefenbronner Monstranz mit ihrem duftigen, fialengeschmückten
Baldachin erzeugt die Illusion, als sei in diesem zarten Gebilde das
Gesetz der Schwere ausgehoben (Beil. S. 6).

In der Moderne strebt beides: heitere Sinnenfreude und starke Geistig-
keit nach einem Ausdruck, und es fehlt nicht an Versuchen, geistiges Wesen
und Sinnlichkeit zu einer harmonischen Einheit zusammenzuschmelzen wie
in der Antike. Der Sinn für das Gediegene, Echte, Brauchbare und
der Sinn für das Dekorative, diese Tugenden des Kunstgewerbes werden
wieder gepflegt. Man begnügt sich nicht mehr damit, die Formen ver-
gangener Stile zu kopieren, man will für die eigenartigen Bedürfnisse des
modernen Lebens neue, selbständige Kunstformen schafsen. Das sind günstige
Vorzeichen. Aber wir müssen es der strengen und freien Kritik späterer

* Die Pastigliakassetten sind charakteristisch für die venezianische Kunst des
späteren 15. Iahrhunderts. Sie zeigen auf vergoldetem Grunde kleinfigurige
Reliefs in sogenanntem Pastigliadekor, das heißt in einer hellen, grauen Masse
(pasta), die in Formen gepreßt und nachziseliert wurde.

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