Sie lächelte eitel, weil er sie verherrlichte; ob-
wohl sie niemals Schwungkraft besessen hatte,
glaubte sie, was ihr der Geliebte in seiner Phan-
tasie andichtete, und glaubte, wertvoller zu sein.
Deine Stimme ist süß, Liebling, sagte sie.
Sprich weiter!
Du bist aufgewachsen wie alle Mädchen des
Bürgerstandes: in gleichmäßiger Gründlichkeit
unter laut betonten Regeln der Sittlichkeit
und Geradheit. Um dir einen gefestigten Cha-
rakter mit in das Leben zu geben, zwang man
dich in das Joch eines wankellosen Gehorsams.
Du wuchsest auf mit den andern und neben ihnen.
Ihr Kinder lerntet euch nicht kennen; ihr spieltet
wohl zusammen, gingt spazieren und saßt zusam-
men in der Stube. So wuchset ihr zusammen auf,
fast den ganzen Tag miteinander vereinigt und
doch unendlich fern von einander. Und als ihr
achtzehn Jahre alt ward, wußte keines von der
Pracht der Gedanken, noch von dem Glanz selt-
samer Farben und Töne. Wer reiche Eltern hatte,
ging wohl in die Konzerte, ließ da die Musik über
sich ergehen, empfand leise Schauer und ahnte
wohl, daß dies Geheimnisse seien, deren Enthül-
lung ihm nie im Leben gelingen würde. Diese
Ahnungen mußten aber erlöschen, sobald die Kin-
der wieder in die Enge des Alltags zurückkehrten.
Ihr last auch Romane: In Familienzeitschriften und
Tagesblättern, vielleicht in Büchern, die in der
Bibliothek des Vaters standen. Daraus aber ging
euch die Schönheit einer veredelten Sprache nicht
auf, und keines lernte die Herrlichkeit des klingen-
den beseelten Wortes kennen und lieben. So bist
du aufgewachsen: ohne tiefe Freude an der Ver-
gangenheit und ohne starke Sehnsucht nach der
Zukunft .... Jetzt will ich dir erzählen von der
Zeit, da zum ersten Male der Mann in dein Be-
wußtsein trat, der Mann, mit dem du dich vereini-
gen wolltest . . . Magst du, daß ich dir dies er-
zähle?
Sie strich ihm mit leise zitternden Fingern über
das Haar, es war ihm, als fühle er die Funken, die
aus ihrem Körper in seinem übersprangen. Die
Ueberfülle der ihm zuströmenden Ideen über-
schwemmte den letzten Rest seiner Traurigkeit,
ließ ihn seine plötzlich aufgesprungene Angst vor
der Zukunft vergessen und berauschte ihn.
Magst du, daß ich dir dies erzähle? fragte er
noch einmal mit dem Tonfall dessen, der eine zu-
sagende Antwort erreichen muß.
Das Mädchen vergaß den spärlichen Gleich-
gang ihrer Kindheit und ihrer Jugend und nahm
die Erzählung des Geliebten als Wirklichkeit hin:
Wie du mich kennst. Ich möchte wieder ein
Kind sein, um diese Tage noch einmal zu erleben.
Ihre Hände zitterten auf seinem Haupt — sie
bebte in der Erwartung der Herrlichkeiten, die er
ihr noch verkünden würde.
Mir ist, als hätte ich jene Zeit mit erlebt, da du
zum ersten Mal an den Mann dachtest, an eine
Vereinigung mit dem Manne. Du mußt mir sagen,
wie du an eine solche Zukunft dachtest. Ob du dir
aus Romanen das Glück einer freudigen Ehe zu-
sammengelesen hast — ob du einen Mann be-
gehrtest, der schön und elegant sein mußte, der
immer liebenswürdig alle deine Wünsche erfülle,
der dich tätschelte und vergötterte .... ob du in
der Ehe ein ewiges Küssen und Liebkosen sahst...
dies alles mußt du mir sagen. Aber nicht heute_
Es muß ein Mittag ohne Sonne sein. Wir werden
durch die Felder wandern. Dies aber weiß ich:
Deine Sehnsucht stand nach einem Manne, der dich
über alle Häßlichkeiten trug und für dich seine
Kraft und seine schönsten Gedanken hängab. In
Stunden der Verträumtheit kamen unendlich süße
Gedanken zu dir, Gedanken von strahlenden
Augen, von heißen Lippen und weißen schönen
Händen. Vielleicht saßest du in solchen Stunden
am Fenster und blicktest in das Halbdunkel der
Straße, in der einige Menschen gingen, lässig in
ihren Bewegungen, einen feinen Zug des Ueber-
drusses in den Gesichtern. Die fast farblose Tapete
des Zimmers wurde in der Dämmerung stumpf
und armselig und schien von dem Neid eines Nüch-
ternen ersonnen zu sein, um alle bunten Gedan-
ken, die sich ins Zimmer wagten, zu töten. Diese
unheimliche Wirkung der Tapete erreichte auch
dich, als du in lachenden Träumen deine Zukunft
erbauen wolltest. So warst du reich an Möglich-
keiten .... aber die Umgebung, die dir Lebens-
keime hätte zuführen können, die fehlte dir.
Jedes Wort, das ihn seine Phantasie auszu-
sprechen zwang, lebte der Künstler mit. Sein
ganzer Körper zitterte leise unter der Anspannung
der seelischen Kräfte. Der Flug seiner Gedanken
wurde kühner und selbstherrlicher, das künstle-
rische Selbstbewußtsein entfaltete seine Schwin-
gen und hob ihn ganz vom Boden der Wirklichkeit
empor, indem sie ihm die Sehnsucht eines Mäd-
chenlebens vortäuschte.
Dann kam der Tag, da du mich zum ersten
Male sahst. Ein Tag, so reich, daß nicht aller
Reichtum verbraucht werden konnte, sondern, zu
Bergen gehäuft, noch in der Dämmerung funkelte
und selbst die stumpfe Neidfarbe der Tapete zum
unwilligen Glänzen brachte. Da kam ein Geheim-
nis zu dir, gemischt aus Wirklichkeit und Vorstel-
lung, ein Phantom, das Fleisch und Blut geworden
war, ohne deshalb aufzuhören, Phantom zu sein.
Es waren keine Menschen in der Straße, als hätten
sie sich zurückgezogen, damit ich von dir erspäht
werden könne. Die Kunst, die in dir schlummert,
wurde mächtig und verklärte und vertrieb alle
nüchternen Gedanken, alle anerzogene Alltäglich-
keit in ihrem Glanz. Aber sie störte dein Gleich-
gewicht nicht, sie hob nur alle Linien und Formen,
die sich dem Auge darboten, ohne sie zu verän-
dern. Du sangst, ohne es zu wissen; alle Verdros-
senheit war von dir abgefallen ....
Das Mädchen unterbrach ihn.
Aber ich kann doch gar nicht singen, lachte sie
fröhlich. Wie oft hab ich dir das schon gesagt!
An jenem Abend sangst du, beharrte er über-
zeugt. Jede deiner Bewegungen, jeder Blick dei-
ner Augen, jedes Seufzen deiner Brust war Musik.
Du bist voll unbewußter Musik.
So schuf er die Geliebte, ein schlichtes Mäd-
chen, zu einem erhabenen Weibe um. Er über-
schüttete das Mädchen mit wunderbaren Bewei-
sen seiner Liebe. Jeder Blick, den er über ihr
Gesicht, über ihre schönen Arme, über die sanfte
Rundung ihrer Brüste, die edlen Bogen ihrer Hüf-
ten gleiten ließ, war Liebe; jedes Wort, das er zu
ihr sprach, war Liebe. Alles in ihm und außer
ihm schien in dieser Stunde dazu geschaffen, ihn
zu erheben, seinen Stolz auszudehnen, seine Seele
in selbstbewußter Größe erschauern zu lassen.
Erinnerungen an die blaue Stunde zuckten in ihm
auf und machten seine glücklichen Empfindungen
vollkommener. Er war nie wieder so völlig eins
mit der Welt gewesen, seit jenen heiligen Stunden
der Kindheit, wie an diesem Abend. Er war wie
die Erde, zitternd im Gefühl der Erlösung: viele
Tage lang hatte das Glück in der Gemeinschaft
mit der Geliebten in seiner Seele gekeimt, war ge-
wachsen, hatte Schößlinge angesetzt und war nun
endlich an das Licht gedrungen. Er hatte seiner
Liebe Worte gegeben und war, wie er meinte, auf
diese Weise in sich selbst klar geworden, was
ihm die Geliebte galt und welchen Einfluß sie auf
sein Schaffen hatte.
In einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit küßte
der Künstler die weichen Haare des Mädchens.
Du bist voll unbewußter Musik. Sie strömt
von dir aus und erfüllt mich.
Welch ein Schwärmer du bist! lächelte sie,
indem sie seinen feingescbnittenen herben Mund
küßte. Manchmal beneide ich dich, weil du so
wunderbar sprechen kannst. Es gibt nichts, was
unter deiner Hand leblos bleibt. Wie liebe ich
dich! Du hast mich zum Erwachen gebracht . . ,
ich habe mich bis heute selbst nicht gekannt. Ich
lebte wie die andern, war fröhlich und sorglos,
weinte, wenn ich einen Ball versäumte... Ein-
mal ging ich in ein Konzert... Ein Konservato-
rist, der mich verehrte, hatte mich eingeladen. Ich
war den ganzen Abend vergnügt; als es zu Ende
war, setzten wir uns zusammen mit meinen El-
tern noch in ein Restaurant und unterhielten
uns . . . Armand Meinerth ist ein sehr amüsan-
ter Mensch! . . . Aber heut ist das alles anders.
— Ich fühle, daß ich mich gar nicht selbst gekannt
habe, daß du kommen mußtest, um mich zu
wecken . . .
Das Mädchen glaubte an diese Worte, war
von ihrem Glanz hypnotisiert. Jetzt lebte sie
kein eigenes Leben mehr, sondern das Leben des.
Geliebten.
Sie war so überwältigt von der Schönheit
ihres Bildes, das der Geliebte geschaffen hatte,
daß sie alle kleinen Rücksichten vergaß, die sie
täglich und stündlich quälten. Alle Bosheiten der
Freundinnen, alle Vorwürfe der Eltern, alle ver-
wunderte Reden der Verehrer. Sie war in diesen
Augenblicken in ehrlichem Wunsch bereit, nur
dem Geliebten mitanzugehören, mit geschlossenen
Augen seinen Reichtum in sich aufzunehmen.
Ihre ganze Jugend wirbelte an ihr vorüber.
Ihre wirkliche, ohne Illusionen und hohe Wünsche.
Sie hatte die Stimme des Lebens nur in den Fest-
lichkeiten der Jugend vernommen und alle Arbeit
als Last empfunden und verabscheut. Sie war
schnippisch geworden, weil die Mutter eine tüch-
tige Hausfrau aus ihr machen wollte; sie war
jung und wollte das Leben genießen, sie war
schön und wollte mit ihrer Schönheit die Welt er-
obern. Alle jungen Herren der Stadt umschwärm-
ten sie und machten sie durch ihre unbedingte
Fügsamkeit stolz und anmaßend. Sie hatte wenig
Selbstgefühl mitgebracht: erst ihre Verehrer lehr-
ten sie, sich selbst zu bewundern. Sie hatte ober-
flächlich ihre Jugend verlebt. In dieser Abend-
stunde wirbelten die lauten Jahre an ihr vorüber;
aber sie schämte sich nicht, sie freute sich ihrer
als eines Irrtums, dem sie jetzt entgangen war.
Sie lebte kein eigenes Leben mehr, sie sah mit
den Augen und empfand mit der Seele des Ge-
liebten.
Sie schlang ihre Arme um Johannes und
drängte sich an ihn, sodaß er das laute Schlagen
ihres Blutes fühlen konnte. Dies hob ihn in die
letzte Verzückung. Die Geliebte war die Kraft,
die ihn so hoch emportrug: das sagte ihm seine
dankbare Seele und das Rauschen seines Blutes.
Unzählige Freuden eines stolzen fruchtbaren
Schaffens dämmerten vor ihm auf.
Und so sprach er, zum erstenmal, der Gelieb-
ten von seinen künstlerischen Schmerzen.
Die breite Straße, die in der Dunkelheit wie
der gewaltige Pfeil eines Riesen zwischen die
ersten Häuser der Stadt fuhr, flimmerte. Die
Lichtmassen des Tages waren eines schweren
Todes gestorben und zitterten noch bis tief in
die Nacht hinein in immer mehr erblassendem
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wohl sie niemals Schwungkraft besessen hatte,
glaubte sie, was ihr der Geliebte in seiner Phan-
tasie andichtete, und glaubte, wertvoller zu sein.
Deine Stimme ist süß, Liebling, sagte sie.
Sprich weiter!
Du bist aufgewachsen wie alle Mädchen des
Bürgerstandes: in gleichmäßiger Gründlichkeit
unter laut betonten Regeln der Sittlichkeit
und Geradheit. Um dir einen gefestigten Cha-
rakter mit in das Leben zu geben, zwang man
dich in das Joch eines wankellosen Gehorsams.
Du wuchsest auf mit den andern und neben ihnen.
Ihr Kinder lerntet euch nicht kennen; ihr spieltet
wohl zusammen, gingt spazieren und saßt zusam-
men in der Stube. So wuchset ihr zusammen auf,
fast den ganzen Tag miteinander vereinigt und
doch unendlich fern von einander. Und als ihr
achtzehn Jahre alt ward, wußte keines von der
Pracht der Gedanken, noch von dem Glanz selt-
samer Farben und Töne. Wer reiche Eltern hatte,
ging wohl in die Konzerte, ließ da die Musik über
sich ergehen, empfand leise Schauer und ahnte
wohl, daß dies Geheimnisse seien, deren Enthül-
lung ihm nie im Leben gelingen würde. Diese
Ahnungen mußten aber erlöschen, sobald die Kin-
der wieder in die Enge des Alltags zurückkehrten.
Ihr last auch Romane: In Familienzeitschriften und
Tagesblättern, vielleicht in Büchern, die in der
Bibliothek des Vaters standen. Daraus aber ging
euch die Schönheit einer veredelten Sprache nicht
auf, und keines lernte die Herrlichkeit des klingen-
den beseelten Wortes kennen und lieben. So bist
du aufgewachsen: ohne tiefe Freude an der Ver-
gangenheit und ohne starke Sehnsucht nach der
Zukunft .... Jetzt will ich dir erzählen von der
Zeit, da zum ersten Male der Mann in dein Be-
wußtsein trat, der Mann, mit dem du dich vereini-
gen wolltest . . . Magst du, daß ich dir dies er-
zähle?
Sie strich ihm mit leise zitternden Fingern über
das Haar, es war ihm, als fühle er die Funken, die
aus ihrem Körper in seinem übersprangen. Die
Ueberfülle der ihm zuströmenden Ideen über-
schwemmte den letzten Rest seiner Traurigkeit,
ließ ihn seine plötzlich aufgesprungene Angst vor
der Zukunft vergessen und berauschte ihn.
Magst du, daß ich dir dies erzähle? fragte er
noch einmal mit dem Tonfall dessen, der eine zu-
sagende Antwort erreichen muß.
Das Mädchen vergaß den spärlichen Gleich-
gang ihrer Kindheit und ihrer Jugend und nahm
die Erzählung des Geliebten als Wirklichkeit hin:
Wie du mich kennst. Ich möchte wieder ein
Kind sein, um diese Tage noch einmal zu erleben.
Ihre Hände zitterten auf seinem Haupt — sie
bebte in der Erwartung der Herrlichkeiten, die er
ihr noch verkünden würde.
Mir ist, als hätte ich jene Zeit mit erlebt, da du
zum ersten Mal an den Mann dachtest, an eine
Vereinigung mit dem Manne. Du mußt mir sagen,
wie du an eine solche Zukunft dachtest. Ob du dir
aus Romanen das Glück einer freudigen Ehe zu-
sammengelesen hast — ob du einen Mann be-
gehrtest, der schön und elegant sein mußte, der
immer liebenswürdig alle deine Wünsche erfülle,
der dich tätschelte und vergötterte .... ob du in
der Ehe ein ewiges Küssen und Liebkosen sahst...
dies alles mußt du mir sagen. Aber nicht heute_
Es muß ein Mittag ohne Sonne sein. Wir werden
durch die Felder wandern. Dies aber weiß ich:
Deine Sehnsucht stand nach einem Manne, der dich
über alle Häßlichkeiten trug und für dich seine
Kraft und seine schönsten Gedanken hängab. In
Stunden der Verträumtheit kamen unendlich süße
Gedanken zu dir, Gedanken von strahlenden
Augen, von heißen Lippen und weißen schönen
Händen. Vielleicht saßest du in solchen Stunden
am Fenster und blicktest in das Halbdunkel der
Straße, in der einige Menschen gingen, lässig in
ihren Bewegungen, einen feinen Zug des Ueber-
drusses in den Gesichtern. Die fast farblose Tapete
des Zimmers wurde in der Dämmerung stumpf
und armselig und schien von dem Neid eines Nüch-
ternen ersonnen zu sein, um alle bunten Gedan-
ken, die sich ins Zimmer wagten, zu töten. Diese
unheimliche Wirkung der Tapete erreichte auch
dich, als du in lachenden Träumen deine Zukunft
erbauen wolltest. So warst du reich an Möglich-
keiten .... aber die Umgebung, die dir Lebens-
keime hätte zuführen können, die fehlte dir.
Jedes Wort, das ihn seine Phantasie auszu-
sprechen zwang, lebte der Künstler mit. Sein
ganzer Körper zitterte leise unter der Anspannung
der seelischen Kräfte. Der Flug seiner Gedanken
wurde kühner und selbstherrlicher, das künstle-
rische Selbstbewußtsein entfaltete seine Schwin-
gen und hob ihn ganz vom Boden der Wirklichkeit
empor, indem sie ihm die Sehnsucht eines Mäd-
chenlebens vortäuschte.
Dann kam der Tag, da du mich zum ersten
Male sahst. Ein Tag, so reich, daß nicht aller
Reichtum verbraucht werden konnte, sondern, zu
Bergen gehäuft, noch in der Dämmerung funkelte
und selbst die stumpfe Neidfarbe der Tapete zum
unwilligen Glänzen brachte. Da kam ein Geheim-
nis zu dir, gemischt aus Wirklichkeit und Vorstel-
lung, ein Phantom, das Fleisch und Blut geworden
war, ohne deshalb aufzuhören, Phantom zu sein.
Es waren keine Menschen in der Straße, als hätten
sie sich zurückgezogen, damit ich von dir erspäht
werden könne. Die Kunst, die in dir schlummert,
wurde mächtig und verklärte und vertrieb alle
nüchternen Gedanken, alle anerzogene Alltäglich-
keit in ihrem Glanz. Aber sie störte dein Gleich-
gewicht nicht, sie hob nur alle Linien und Formen,
die sich dem Auge darboten, ohne sie zu verän-
dern. Du sangst, ohne es zu wissen; alle Verdros-
senheit war von dir abgefallen ....
Das Mädchen unterbrach ihn.
Aber ich kann doch gar nicht singen, lachte sie
fröhlich. Wie oft hab ich dir das schon gesagt!
An jenem Abend sangst du, beharrte er über-
zeugt. Jede deiner Bewegungen, jeder Blick dei-
ner Augen, jedes Seufzen deiner Brust war Musik.
Du bist voll unbewußter Musik.
So schuf er die Geliebte, ein schlichtes Mäd-
chen, zu einem erhabenen Weibe um. Er über-
schüttete das Mädchen mit wunderbaren Bewei-
sen seiner Liebe. Jeder Blick, den er über ihr
Gesicht, über ihre schönen Arme, über die sanfte
Rundung ihrer Brüste, die edlen Bogen ihrer Hüf-
ten gleiten ließ, war Liebe; jedes Wort, das er zu
ihr sprach, war Liebe. Alles in ihm und außer
ihm schien in dieser Stunde dazu geschaffen, ihn
zu erheben, seinen Stolz auszudehnen, seine Seele
in selbstbewußter Größe erschauern zu lassen.
Erinnerungen an die blaue Stunde zuckten in ihm
auf und machten seine glücklichen Empfindungen
vollkommener. Er war nie wieder so völlig eins
mit der Welt gewesen, seit jenen heiligen Stunden
der Kindheit, wie an diesem Abend. Er war wie
die Erde, zitternd im Gefühl der Erlösung: viele
Tage lang hatte das Glück in der Gemeinschaft
mit der Geliebten in seiner Seele gekeimt, war ge-
wachsen, hatte Schößlinge angesetzt und war nun
endlich an das Licht gedrungen. Er hatte seiner
Liebe Worte gegeben und war, wie er meinte, auf
diese Weise in sich selbst klar geworden, was
ihm die Geliebte galt und welchen Einfluß sie auf
sein Schaffen hatte.
In einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit küßte
der Künstler die weichen Haare des Mädchens.
Du bist voll unbewußter Musik. Sie strömt
von dir aus und erfüllt mich.
Welch ein Schwärmer du bist! lächelte sie,
indem sie seinen feingescbnittenen herben Mund
küßte. Manchmal beneide ich dich, weil du so
wunderbar sprechen kannst. Es gibt nichts, was
unter deiner Hand leblos bleibt. Wie liebe ich
dich! Du hast mich zum Erwachen gebracht . . ,
ich habe mich bis heute selbst nicht gekannt. Ich
lebte wie die andern, war fröhlich und sorglos,
weinte, wenn ich einen Ball versäumte... Ein-
mal ging ich in ein Konzert... Ein Konservato-
rist, der mich verehrte, hatte mich eingeladen. Ich
war den ganzen Abend vergnügt; als es zu Ende
war, setzten wir uns zusammen mit meinen El-
tern noch in ein Restaurant und unterhielten
uns . . . Armand Meinerth ist ein sehr amüsan-
ter Mensch! . . . Aber heut ist das alles anders.
— Ich fühle, daß ich mich gar nicht selbst gekannt
habe, daß du kommen mußtest, um mich zu
wecken . . .
Das Mädchen glaubte an diese Worte, war
von ihrem Glanz hypnotisiert. Jetzt lebte sie
kein eigenes Leben mehr, sondern das Leben des.
Geliebten.
Sie war so überwältigt von der Schönheit
ihres Bildes, das der Geliebte geschaffen hatte,
daß sie alle kleinen Rücksichten vergaß, die sie
täglich und stündlich quälten. Alle Bosheiten der
Freundinnen, alle Vorwürfe der Eltern, alle ver-
wunderte Reden der Verehrer. Sie war in diesen
Augenblicken in ehrlichem Wunsch bereit, nur
dem Geliebten mitanzugehören, mit geschlossenen
Augen seinen Reichtum in sich aufzunehmen.
Ihre ganze Jugend wirbelte an ihr vorüber.
Ihre wirkliche, ohne Illusionen und hohe Wünsche.
Sie hatte die Stimme des Lebens nur in den Fest-
lichkeiten der Jugend vernommen und alle Arbeit
als Last empfunden und verabscheut. Sie war
schnippisch geworden, weil die Mutter eine tüch-
tige Hausfrau aus ihr machen wollte; sie war
jung und wollte das Leben genießen, sie war
schön und wollte mit ihrer Schönheit die Welt er-
obern. Alle jungen Herren der Stadt umschwärm-
ten sie und machten sie durch ihre unbedingte
Fügsamkeit stolz und anmaßend. Sie hatte wenig
Selbstgefühl mitgebracht: erst ihre Verehrer lehr-
ten sie, sich selbst zu bewundern. Sie hatte ober-
flächlich ihre Jugend verlebt. In dieser Abend-
stunde wirbelten die lauten Jahre an ihr vorüber;
aber sie schämte sich nicht, sie freute sich ihrer
als eines Irrtums, dem sie jetzt entgangen war.
Sie lebte kein eigenes Leben mehr, sie sah mit
den Augen und empfand mit der Seele des Ge-
liebten.
Sie schlang ihre Arme um Johannes und
drängte sich an ihn, sodaß er das laute Schlagen
ihres Blutes fühlen konnte. Dies hob ihn in die
letzte Verzückung. Die Geliebte war die Kraft,
die ihn so hoch emportrug: das sagte ihm seine
dankbare Seele und das Rauschen seines Blutes.
Unzählige Freuden eines stolzen fruchtbaren
Schaffens dämmerten vor ihm auf.
Und so sprach er, zum erstenmal, der Gelieb-
ten von seinen künstlerischen Schmerzen.
Die breite Straße, die in der Dunkelheit wie
der gewaltige Pfeil eines Riesen zwischen die
ersten Häuser der Stadt fuhr, flimmerte. Die
Lichtmassen des Tages waren eines schweren
Todes gestorben und zitterten noch bis tief in
die Nacht hinein in immer mehr erblassendem
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