bleichen Leuchten über der Landschaft. Aber so-
bald die Straße zwischen den ersten Häusern der
Stadt angelangt v/ar, wich das gestorbene Licht
scheu zurück und wagte sich nicht weiter. Die
Häuser standen eng und duldeten keine Lichter,
nicht einmal den ärmlichen, ängstlichen Schein
des gestorbenen Tageslichtes zwischen sich. Sie
waren die Torwächter, die streng darauf zu ach-
ten hatten, daß kein Licht von außen in die Stadt
hereinkommen konnte. Aber Sonne und Mond
konnten sie nicht vom Himmel verjagen, wie fin-
ster auch ihre Mienen sein mochten. Nur über
das arme gestorbene Tageslicht hatten sie Ge-
walt, das in seiner Schwäche und Hilflosigkeit
am Boden einherkroch. Ueber die Straße zwi-
schen den Häusern lagen kleine runde Lichtflecke
werstreut; die fielen aus häßlichen, unfreund-
lichen Gaslaternen.
Ein Schritt hallte durch die Nacht. Gemessen
langsam und doch verhalten drängend. Das Has-
ten der neuen Zeit lag darin, aber es wurde von
-einem starken Willen gehalten.
Johannes lauschte hinter sich. Die Begierde,
zu wissen, wo er diesen harten Schritt schon ein-
mal vernommen hatte, sprang in ihm auf und
zerrte an ihm. Er sah sich als Sechzehnjährigen
durch eine einsame Straße wandeln. Massige
Häuser mit unsauberen Fassaden warfen rechts
und links seine Schritte zurück. Er ging mitten
auf der Straße; denn er fürchtete sich vor der
Starrheit der Gebäude. Einmal fiel ihm ein Haus
auf, dessen Rolläden alle herabgelassen waren, bis
hinauf in den fünften Stock. Es ist etwas unheim-
liches um ein Haus mit herabgelassenen Rolläden,
wenn du davorstehst und es betrachtest. In weh-
tuender Kälte starrt es dich an, wie ein höh-
nisches Ungeheuer, das viel zu verbergen hat.
Wer weiß, was in seinem Innern vorgeht, welche
Szenen der Eifersucht, der betrogenen Mutter-
liebe, der enttäuschten Hoffnungen sich vielleicht
in seinen Zimmern abspielen, während das
Aeußere daliegt, ein Totes. Er floh und glaubte
das lautlose Hohngelächter des Hauses hinter sich
herkommen zu hören. So geriet er plötzlich in
einen schwarzen Menschenstrom; ganz überwäl-
tigt von dem erkältenden Schrecken hatte er nicht
gesehen, wie sich hinter ihm ein Tor auftat und
mit seltsamer Schnelligkeit eine Masse Menschen
herausgoß. Menschen mit verbitterten Gesich-
tern, Mädchen, die keine Scham kannten, hinter
denen Burschen herliefen und häßliche Worte her-
ausschrien. Johannes stand mitten unter ihnen.
Fast zitternd blieb er stehen und entsetzte sich
vor der seltsamen Häßlichkeit; er gelobte sich,
nie mehr durch ein Arbeiterviertel der Großstadt
zu gehen. Er hörte die schlimmen Worte der
Menschen, die kichernden Bemerkungen, die ihm
einige Mädchen zuwarfen. Als sie vorüber waren,
atmete er auf und blieb stehen, bis sie um die
nächste Ecke verschwanden. Dann ging er, lang-
sam, ängstlich zurückhorchend. Da schallte ganz
plötzlich ein Schritt auf, gemessen langsam und
doch verhalten drängend. Johannes ahnte es:
Der Schritt eines Arbeiters, der unzufrieden ist
mit seinem Schicksal, aber klug genug, die Zu-
friedenheit nicht mit Fausthieben und Fußtritten
erobern zu wollen. Dieser Schritt drängte sich
ihm auf und verfolgte ihn. Mehrere Tage lang.
Dröhnte hinter ihm her in den vornehmsten Stra-
ßen der Stadt, in den feinsten Cafes, in den Räu-
men des Konservatoriums, überall. Dann ver-
klang er allmählich.
Jetzt aber stand er plötzlich wieder hinter ihm
auf, wie ein Mahner und wie ein böses Gewissen.
Derselbe langsame, verhalten drängende Schritt
Jenes Arbeiters, der ihn in jener Winternacht aus
großen Augen angeblickt und dessen Blick ihn
wie eine Anklage getroffen hatte, trotzdem er
schuldlos war. Johannes hatte das Gefühl, als
hinge eine schwere Hand über ihm, bereit, unge-
stüm in das kostbare Gewebe seiner Träume zu
greifen und sie zu zerreißen, wie eine törichte
Knabenhand das kunstreiche Netz einer Spinne
zerreißt.
Zitternd blieb er stehen und horchte mit ver-
haltenem Atem. Der Schritt klang aus großer
Ferne, nahm langsam an Stärke und Knappheit
zu und wurde endlich scharf umrändert.
Was hast du, Johannes? fragte das Mädchen.
Er schüttelte leise den Kopf.
Jetzt lauschte sie auch, vernahm den Schritt.
Komm! Warum bleibst du stehen?
Ich dachte, Ruhe zu haben vor diesem ent-
setzlichen Schritt. Ich wähnte, er sei auf immer
aus meinem Ohr geflohen . . . Jetzt, jetzt wacht
er wieder auf.
Seine Augen wurden weit und starr und seine
Hände zitterten heftig. Ein schneller Gedanke
zuckte in seinem Gehirn empor; als gäbe er den
Freunden auf eine wortlose Frage eine wortlose
Antwort: „Die Musik in mir strahlt durch die
Fingerspitzen, versprüht durch sie in den freien
Raum und vermählt sich mit ihm. Aber heute
ist es eine trostlose Musik.1-
Seit jenem Abend, an dem ich zum erstenmal
die Armut als verbitterte Masse an mir vorüber-
ziehen sah, seit jenem Abend lebt das Mitleid mit
dieser Masse in mir. Tage und nächtelang nach
jenem Abend schrie es in mir. Allmählich wurde
es leiser und sanfter . . . und erlosch endlich.
Das Mitleid war noch in mir, aber es drängte sich
nicht mehr auf. Es schwang als leiser Unterton
in der Melodie meiner Seele mit. Die Wünsche
meines Künstlertums gingen nach Segen für alle
Menschen aus. Für alle. Auch für die Armen
und Heimgesuchten. Aber ich darf nicht erinnert
werden, ich darf nicht brutal hineingestoßen wer-
den . . .: Sieh, die einen, die schwelgen, und wir
hungern! Dann ziehe ich mich in mich selbst zu-
rück und verachte die Menschen. Jene Zeit war
schrecklich . . . jetzt wacht sie wieder vor mir
auf . . . Hörst du den Schritt, diesen entsetz-
lichen Schritt?
Komm, Liebling, du bist empfindlich . . .
Komm, lache ... Wer weiß, was für ein harm-
loser Mensch da hinter uns herkommt!
Sie gingen langsam weiter. Das gestorbene
Licht, das auf der Straße lag, wurde bleicher und
matter, je höher die Nacht stieg. Links von der
Straße fiel ein Abhang einige Meter tief und
wurde dann von einzelnen kleinen Häusern auf-
gehalten. Weiter vorn, zu Füßen des Abhangs
glimmerten die Lichter der Straßen, gelblich rote
Tropfen in dem ruhigen Meer der Nacht.
Der langsam, verhalten drängende Schritt
warf sich jetzt um die letzte Straßenbiegung und
war auf einmal ganz laut und hart. Die Berg-
wand, die sanft in die Höhe glitt und oben ver-
dämmerte, warf den Schritt nicht zurück, als
ängstige sie sich vor seiner Rücksichtslosigkeit.
Wie ein unabwendbares Schicksal wuchs er
heran. Immer näher. Er wollte dem unheim-
lichen Klang entfliehen, aber er konnte nicht. Eine
Stimme sprach in ihm: Du hast nun den Klang
wieder gehört und wirst ihm lange Zeit nicht ent-
rinnen. Und in einsamster Stille wird er hinter
dir her sein und dich martern.
Er meinte, ewigkeitlange Schmerzen erduldet
zu haben, als endlich der Schritt ganz knapp hin-
ter ihm war. Er drehte sich um und erblickte
einen jungen Mann, der leise vor sich hinpfeifepd
seines Weges ging. In der dämmerigen Bleich-
heit des Halblichtes sah Johannes undeutlich die
Züge des Arbeiters und zwei Augen, die ihn, wie
er meinte, groß und anklagend betrachteten.
Guten Abend, sagte der junge Mann. Und Jo-
hannes erkannte den Klang der Stimmen, die an
jenem Winterabend vor dem Fabriktor an ihm
vorübergeflutet waren. Da kam der Drang über
ihn, diesmal der Stimme Gehör zu schenken; un-
begründete Reue erwachte in ihm und bestimmte
ihn, an dem jungen Mann gutzumachen, was er
damals an der ganzen Schar jener Arbeiter ver-
säumt und wofür ihn jener einzelne Arbeiter mit
seinen großen verurteilenden Blicken gestraft
hatte. Und als er näher ging, erkannte er den
Mann, der ihm einmal als der klügste und weit-
sichtigste Kopf unter den Arbeitern der Stadt be-
zeichnet worden war.
Wort um Wort abwägend sprachen sie mit-
einander. Der Schritt des Arbeiters war jetzt
stiller und sanfter. Er verriet die Scheu des Men-
schen, der sich an der Seite eines höher stehen-
den sieht und unwillkürlich seine eigene Ungelen-
kigkeit empfindet. Das Mädchen ging nebenher
und horchte in das schwerfließende Gespräch der
Männer.
Erst als sie einander besser kannten, flackerte
die Stimme der Begeisterung wieder in dem Ar-
beiter empor. Jörg Martin hieß er. Da sprach
er von seinen Plänen, von der Sehnsucht des Pro-
letariats, von der Güte aller Menschen und wie
man die Menschen führen müsse, um diese Güte
in ihnen lebendig und fruchtbar zu machen. Jo-
hannes empfing seine Worte wie eine brausende
Symphonie, deren Stimmen bald geängstigt, bald
begeistert, bald klagend und winselnd, bald
lachend und trotzend durcheinanderliefen. Er er-
götzte sich an den seltsamen Motiven, die aus die-
sem Arbeiter klangen, an der Verschlungenheit
ihrer Linien und an der Schlichtheit ihres Auf-
baues. Er vergaß über der künstlerischen Freude
an dem Manne das Entsetzen, das sein drängen-
der Schritt geweckt hatte.
Wir haben gleiche Ziele, sagte er, nachdem
Jörg Martin den Bau seiner Menschenzukunft
fertig vor ihn hingestellt hatte. Wir haben die
gleichen Wünsche. Wir beide haben den Glauben
an uns selbst. Wer diesen Glauben hat, wird
sich selbst nie untreu werden. Alle aber, die die-
sen Glauben verloren haben, sind Sklaven der
andern gewbrden . . .
Fortsetznus folgt
Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
Handbuch der Kunstwissenschaft
Herausgegeben von Dr. Fritz Burger / Soeben
erschienen: Lieferung 5 und 6: Fritz Bur-
ger: Deutsche Malerei Heft 3 und 4
Berlin-Neubabelsberg / Akademische Verlags-
gesellschaft m. b. H. M. Koch
Svend Borberg
Den Sejrende Type / Humane Visioner
Kopenhagen / J. S. Jensens Forlag
bald die Straße zwischen den ersten Häusern der
Stadt angelangt v/ar, wich das gestorbene Licht
scheu zurück und wagte sich nicht weiter. Die
Häuser standen eng und duldeten keine Lichter,
nicht einmal den ärmlichen, ängstlichen Schein
des gestorbenen Tageslichtes zwischen sich. Sie
waren die Torwächter, die streng darauf zu ach-
ten hatten, daß kein Licht von außen in die Stadt
hereinkommen konnte. Aber Sonne und Mond
konnten sie nicht vom Himmel verjagen, wie fin-
ster auch ihre Mienen sein mochten. Nur über
das arme gestorbene Tageslicht hatten sie Ge-
walt, das in seiner Schwäche und Hilflosigkeit
am Boden einherkroch. Ueber die Straße zwi-
schen den Häusern lagen kleine runde Lichtflecke
werstreut; die fielen aus häßlichen, unfreund-
lichen Gaslaternen.
Ein Schritt hallte durch die Nacht. Gemessen
langsam und doch verhalten drängend. Das Has-
ten der neuen Zeit lag darin, aber es wurde von
-einem starken Willen gehalten.
Johannes lauschte hinter sich. Die Begierde,
zu wissen, wo er diesen harten Schritt schon ein-
mal vernommen hatte, sprang in ihm auf und
zerrte an ihm. Er sah sich als Sechzehnjährigen
durch eine einsame Straße wandeln. Massige
Häuser mit unsauberen Fassaden warfen rechts
und links seine Schritte zurück. Er ging mitten
auf der Straße; denn er fürchtete sich vor der
Starrheit der Gebäude. Einmal fiel ihm ein Haus
auf, dessen Rolläden alle herabgelassen waren, bis
hinauf in den fünften Stock. Es ist etwas unheim-
liches um ein Haus mit herabgelassenen Rolläden,
wenn du davorstehst und es betrachtest. In weh-
tuender Kälte starrt es dich an, wie ein höh-
nisches Ungeheuer, das viel zu verbergen hat.
Wer weiß, was in seinem Innern vorgeht, welche
Szenen der Eifersucht, der betrogenen Mutter-
liebe, der enttäuschten Hoffnungen sich vielleicht
in seinen Zimmern abspielen, während das
Aeußere daliegt, ein Totes. Er floh und glaubte
das lautlose Hohngelächter des Hauses hinter sich
herkommen zu hören. So geriet er plötzlich in
einen schwarzen Menschenstrom; ganz überwäl-
tigt von dem erkältenden Schrecken hatte er nicht
gesehen, wie sich hinter ihm ein Tor auftat und
mit seltsamer Schnelligkeit eine Masse Menschen
herausgoß. Menschen mit verbitterten Gesich-
tern, Mädchen, die keine Scham kannten, hinter
denen Burschen herliefen und häßliche Worte her-
ausschrien. Johannes stand mitten unter ihnen.
Fast zitternd blieb er stehen und entsetzte sich
vor der seltsamen Häßlichkeit; er gelobte sich,
nie mehr durch ein Arbeiterviertel der Großstadt
zu gehen. Er hörte die schlimmen Worte der
Menschen, die kichernden Bemerkungen, die ihm
einige Mädchen zuwarfen. Als sie vorüber waren,
atmete er auf und blieb stehen, bis sie um die
nächste Ecke verschwanden. Dann ging er, lang-
sam, ängstlich zurückhorchend. Da schallte ganz
plötzlich ein Schritt auf, gemessen langsam und
doch verhalten drängend. Johannes ahnte es:
Der Schritt eines Arbeiters, der unzufrieden ist
mit seinem Schicksal, aber klug genug, die Zu-
friedenheit nicht mit Fausthieben und Fußtritten
erobern zu wollen. Dieser Schritt drängte sich
ihm auf und verfolgte ihn. Mehrere Tage lang.
Dröhnte hinter ihm her in den vornehmsten Stra-
ßen der Stadt, in den feinsten Cafes, in den Räu-
men des Konservatoriums, überall. Dann ver-
klang er allmählich.
Jetzt aber stand er plötzlich wieder hinter ihm
auf, wie ein Mahner und wie ein böses Gewissen.
Derselbe langsame, verhalten drängende Schritt
Jenes Arbeiters, der ihn in jener Winternacht aus
großen Augen angeblickt und dessen Blick ihn
wie eine Anklage getroffen hatte, trotzdem er
schuldlos war. Johannes hatte das Gefühl, als
hinge eine schwere Hand über ihm, bereit, unge-
stüm in das kostbare Gewebe seiner Träume zu
greifen und sie zu zerreißen, wie eine törichte
Knabenhand das kunstreiche Netz einer Spinne
zerreißt.
Zitternd blieb er stehen und horchte mit ver-
haltenem Atem. Der Schritt klang aus großer
Ferne, nahm langsam an Stärke und Knappheit
zu und wurde endlich scharf umrändert.
Was hast du, Johannes? fragte das Mädchen.
Er schüttelte leise den Kopf.
Jetzt lauschte sie auch, vernahm den Schritt.
Komm! Warum bleibst du stehen?
Ich dachte, Ruhe zu haben vor diesem ent-
setzlichen Schritt. Ich wähnte, er sei auf immer
aus meinem Ohr geflohen . . . Jetzt, jetzt wacht
er wieder auf.
Seine Augen wurden weit und starr und seine
Hände zitterten heftig. Ein schneller Gedanke
zuckte in seinem Gehirn empor; als gäbe er den
Freunden auf eine wortlose Frage eine wortlose
Antwort: „Die Musik in mir strahlt durch die
Fingerspitzen, versprüht durch sie in den freien
Raum und vermählt sich mit ihm. Aber heute
ist es eine trostlose Musik.1-
Seit jenem Abend, an dem ich zum erstenmal
die Armut als verbitterte Masse an mir vorüber-
ziehen sah, seit jenem Abend lebt das Mitleid mit
dieser Masse in mir. Tage und nächtelang nach
jenem Abend schrie es in mir. Allmählich wurde
es leiser und sanfter . . . und erlosch endlich.
Das Mitleid war noch in mir, aber es drängte sich
nicht mehr auf. Es schwang als leiser Unterton
in der Melodie meiner Seele mit. Die Wünsche
meines Künstlertums gingen nach Segen für alle
Menschen aus. Für alle. Auch für die Armen
und Heimgesuchten. Aber ich darf nicht erinnert
werden, ich darf nicht brutal hineingestoßen wer-
den . . .: Sieh, die einen, die schwelgen, und wir
hungern! Dann ziehe ich mich in mich selbst zu-
rück und verachte die Menschen. Jene Zeit war
schrecklich . . . jetzt wacht sie wieder vor mir
auf . . . Hörst du den Schritt, diesen entsetz-
lichen Schritt?
Komm, Liebling, du bist empfindlich . . .
Komm, lache ... Wer weiß, was für ein harm-
loser Mensch da hinter uns herkommt!
Sie gingen langsam weiter. Das gestorbene
Licht, das auf der Straße lag, wurde bleicher und
matter, je höher die Nacht stieg. Links von der
Straße fiel ein Abhang einige Meter tief und
wurde dann von einzelnen kleinen Häusern auf-
gehalten. Weiter vorn, zu Füßen des Abhangs
glimmerten die Lichter der Straßen, gelblich rote
Tropfen in dem ruhigen Meer der Nacht.
Der langsam, verhalten drängende Schritt
warf sich jetzt um die letzte Straßenbiegung und
war auf einmal ganz laut und hart. Die Berg-
wand, die sanft in die Höhe glitt und oben ver-
dämmerte, warf den Schritt nicht zurück, als
ängstige sie sich vor seiner Rücksichtslosigkeit.
Wie ein unabwendbares Schicksal wuchs er
heran. Immer näher. Er wollte dem unheim-
lichen Klang entfliehen, aber er konnte nicht. Eine
Stimme sprach in ihm: Du hast nun den Klang
wieder gehört und wirst ihm lange Zeit nicht ent-
rinnen. Und in einsamster Stille wird er hinter
dir her sein und dich martern.
Er meinte, ewigkeitlange Schmerzen erduldet
zu haben, als endlich der Schritt ganz knapp hin-
ter ihm war. Er drehte sich um und erblickte
einen jungen Mann, der leise vor sich hinpfeifepd
seines Weges ging. In der dämmerigen Bleich-
heit des Halblichtes sah Johannes undeutlich die
Züge des Arbeiters und zwei Augen, die ihn, wie
er meinte, groß und anklagend betrachteten.
Guten Abend, sagte der junge Mann. Und Jo-
hannes erkannte den Klang der Stimmen, die an
jenem Winterabend vor dem Fabriktor an ihm
vorübergeflutet waren. Da kam der Drang über
ihn, diesmal der Stimme Gehör zu schenken; un-
begründete Reue erwachte in ihm und bestimmte
ihn, an dem jungen Mann gutzumachen, was er
damals an der ganzen Schar jener Arbeiter ver-
säumt und wofür ihn jener einzelne Arbeiter mit
seinen großen verurteilenden Blicken gestraft
hatte. Und als er näher ging, erkannte er den
Mann, der ihm einmal als der klügste und weit-
sichtigste Kopf unter den Arbeitern der Stadt be-
zeichnet worden war.
Wort um Wort abwägend sprachen sie mit-
einander. Der Schritt des Arbeiters war jetzt
stiller und sanfter. Er verriet die Scheu des Men-
schen, der sich an der Seite eines höher stehen-
den sieht und unwillkürlich seine eigene Ungelen-
kigkeit empfindet. Das Mädchen ging nebenher
und horchte in das schwerfließende Gespräch der
Männer.
Erst als sie einander besser kannten, flackerte
die Stimme der Begeisterung wieder in dem Ar-
beiter empor. Jörg Martin hieß er. Da sprach
er von seinen Plänen, von der Sehnsucht des Pro-
letariats, von der Güte aller Menschen und wie
man die Menschen führen müsse, um diese Güte
in ihnen lebendig und fruchtbar zu machen. Jo-
hannes empfing seine Worte wie eine brausende
Symphonie, deren Stimmen bald geängstigt, bald
begeistert, bald klagend und winselnd, bald
lachend und trotzend durcheinanderliefen. Er er-
götzte sich an den seltsamen Motiven, die aus die-
sem Arbeiter klangen, an der Verschlungenheit
ihrer Linien und an der Schlichtheit ihres Auf-
baues. Er vergaß über der künstlerischen Freude
an dem Manne das Entsetzen, das sein drängen-
der Schritt geweckt hatte.
Wir haben gleiche Ziele, sagte er, nachdem
Jörg Martin den Bau seiner Menschenzukunft
fertig vor ihn hingestellt hatte. Wir haben die
gleichen Wünsche. Wir beide haben den Glauben
an uns selbst. Wer diesen Glauben hat, wird
sich selbst nie untreu werden. Alle aber, die die-
sen Glauben verloren haben, sind Sklaven der
andern gewbrden . . .
Fortsetznus folgt
Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
Handbuch der Kunstwissenschaft
Herausgegeben von Dr. Fritz Burger / Soeben
erschienen: Lieferung 5 und 6: Fritz Bur-
ger: Deutsche Malerei Heft 3 und 4
Berlin-Neubabelsberg / Akademische Verlags-
gesellschaft m. b. H. M. Koch
Svend Borberg
Den Sejrende Type / Humane Visioner
Kopenhagen / J. S. Jensens Forlag