Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

DOI issue:
Nummer 176/177 (September 1913)
DOI article:
Fuchs, Richard: Orient oder Occident
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0095

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Frau stellt mit einer Bewußtheit, wie sie selbst
nicht in der Triebkraft des Mannes vorliegt, Be-
hauptungen auf, deren Gegenteil sie weiß und
sieht. Sie antwortet dem Mann ins Auge: „Du
willst ja bloß, daß ich für dich arbeite. Und ich
arbeite.“ Der Mann will aber zum tausendsten
Mal, daß sie nicht arbeite und dafür ein einziges
Mal ihrem Lebenstrieb folge. Wer schon in der
Jugend diese Gegensätze sah, bekommt fürs Leben
eine schwer zu besiegende Ehescheu. Sobald der
Mensch eine Wahrheit besitzt, kann er nicht wie-
der zurückleben. Der Hauptunterschied der Un-
treue des Mannes und der Frau ist, daß die Un-
treue der Frau, so instinktiv sie sei, nur den Mann
auf die Probe stellt. Es gibt keinen Mann, der
nicht wissen könnte, ob und wann seine Frau un-
treu war; der Mann weiß es sicherer als es je die
Frau von sich und vom Mann wissen mag. Also
gibt die Gegenwirkung des Mannes den Ausschlag.
Tausend Männer wissen und schweigen, aber das
Schweigen wird ihnen zum Verhängnis. Schwei-
gen ist schlimmer als nichts zu wissen. Denn
irgend ein Zweck gebietet, daß sich Mann und
Frau zum Ausdruck bringen. Keine Frau hat eine
Wahl, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Jede
Frau, die von der sorglosen Untreue des Gatten
Kenntnis bekommt, verliert mit einmal die Liebe,
ohne daß sie will. Die Frau von christlichem Ge-
müt empfängt und verliert die ganze intellektuelle
Liebe durch den Mann. Nach dem Verlust ihres
Geistes erscheint ihr tätig Praktisches nur noch
von größerer Vernunft, während das müßig Prak-
tische einer andern, aber mit eignem Triebleben,
immer vernünftiger wirkt. Für Liebe Untreue,
für Untreue Verstand: und das soll den Frauen
das Verhältnis zwischen Geschlechtskraft, Ver-
stand und Liebe im Mann verraten? Die kluge
Frau ist darum schon vor der Ehe klug. Die Frei-
geisterei von ehedem zeigte dem Mädchen den
Mann wie er ist und redete nicht von der Liebe
und nicht vom Geschlechte. Das Glück der Frau
ruht dort sicherer, wo sie selbst ihrem Verstand
nachhilft. Handelt es sich doch in beiden um das
Glück des einzelnen, nicht um die Summe ihres
Glückes. Denn um die Größe von Empfindungen
zu bestimmen, fehlt der objektive Maßstab. Die
Geburt vererbt außer dem Geschlechts- und
Geistesunterschied noch eine größere und gerin-
gere Eigenwelt, die von der Anstellung in der
Welt zu unterscheiden ist. Deshalb ist noch die
Qualität einer Kultur wichtig. Denn daß jeder
Verstand glücklich und jeder Geist unglücklich zu
preisen sei, ist zu banal, um wahr zu sein. Aller-
dings mögen beide das Leben auf der Ehre des
Glückes und nicht auf dem berühmten Unglück
aufbauen.

Die Zeit ist bis an die äußere Grenze ihrer Irr-
tümer gekommen. Die Liebe läuft in Toilette auf
der Straße und wohnt in einem Quartier, das kaum
eine Wohnung mehr ist. Erst war die Frau ein
Spielzeug, wurde dann die Arbeitskraft des Man-
nes, und nun ist sie der Plunder der Konkurrenz.
Der Mann aber, der bemerkte, daß die Frau alles
könne, sogar besser arbeiten als er, wurde zu faul,
um noch den Luxus seiner Sinne selbst zu bestrei-
ten. In der Tiergattung bekommt das Weibchen
ein tapfres schönes Männchen, in unserer feinen
Welt sucht und findet es in vielen Männern nur
viele degradierte Diener. Das Weib wird trotz-
dem monogam geboren, und der Mann polygam,
also mit einem heimlichen und einem öffentlichen
Unterschied. Kein Buch der Welt ändert das
Wesen der Natur. Es gibt keine zwei Frauen-
rassen, alles ist schon an den Frauen Natur, näm-
lich Dummheit oder Verstand, und alles Lebens-
beispiel gewesen. Es gibt auch gar keine ver-
schiednen Menschenrassen, denn alle haben die

Einsetzungen der Familie und der Dirne. Was
soll bloß die Frau in der Oeffentlichkeit? Wo gibt
es denn eine Frau, mit der man ein einziges Wort
öffentlich sprechen kann? Wenn der alte Grieche
sagte, er müsse an sein Geschäft, so hatte er drau-
ßen auch seine Mätressen und Dirnen. Der Frau
blieb das ganze öffentliche Leben des Mannes ver-
borgen. Wenn der Frau nichts Einfacheres ge-
boten ist, als nur an ihrem Schmuck arbeiten zu
müssen, ist sie glücklich mit Haus oder Mann und
tut alles für sie, keine will ein zweites Leben und
das zweite Leben des Mannes ist ihr gleich. Jede
sieht in seinen geistigen Leistungen nur einen an-
dern Schmuck für sie, geistige Werte, welche die
Oeffentlichkeit kennen zu lernen nicht auszuteilen
hat. Tief ist der Trieb des Weibes zu lieben oder
zu verdienen. Noch tiefer ist heute der Lebens-
unglaube des Mannes. Zwar ist der Glaube an
das Leben gefährlich, denn das Leben hat schlei-
chende Tücken. Nie ist die Vernunft gefährlich,
gefährlich ist immer der Glaube. Aber am ge-
fährlichsten ist der Unglaube. Seitdem die Frau
einen natürlichen Gatten entbehrt, schmückt sie
sich überhaupt nicht mehr für die Männer. Der
Schmuck übernimmt die Ausspielerei des Ge-
schlechts. Warum ein einzelner Mann gegen die
Welt Recht haben soll, seit wann wagt die Frau
so zu fragen? Die Frau verschlechtert sich, sobald
der Mann sie nicht mehr für ihr weibliches Ver-
dienst genießt. Seitdem sie mit dem Mann für die
Welt arbeitet, findet sich der Luxus für die Mutter
und Dirne komplet auf der Straße. Die Frau soll
aber in erster Beziehung nach der privaten
Leistung des Mannes fragen. Das würde nur dann
zu hoch finanziert, wenn sie in ihrem Beglücker
auch noch den Wirtschaftskonkurrenten entlohnen
müßte. Die Ehe, als eine ökonomische Frage,
bleibt ein reiner Geschmack des Mannes und wird
weder Pflicht noch Recht. Unser Bürgertum ist
bis in breite Schichten verwöhnt, die durch ihre
Geschlechtersucht noch zur Sippe gehören. Weil
das Leben nur wenigen geschenkt ist, wird es
durch Leidenschaften vielen zur Torheit. Die
einzig menschliche Antwort ist, daß die Not-
wendigkeiten nicht durch Vernichtung der Leiden-
schaften geheilt werden.

Da die Gefühle und Triebe im innern Menschen
herrschen, so muß die Vernunft die äußere Welt
regieren. Keiner ist zu etwas verpflichtet, was
wider die Vernunft ist. Die Lebensführung lenkt
die persönliche Erziehung; Gewohnheit und Bei-
spiel sind das Geheimnis des Organischen. Zu
jedem Sexualverhältnis gehört eine Gelegenheit,
jede Unmoral eines Freundes braucht ihre Gele-
genheit. Also keine Gelegenheit aufsuchen! Denn
sie kommt von selbst. Andere als reizende Ge-
legenheiten sind auch der Polizei, der Religion und
Moral zu verbieten. Denn selbst nicht durch, Ver-
nunft ist der einzelne zum andern zu zwingen.
Aber besonders ist jede unbegrenzte Phantasie in
der Oeffentlichkeit zu verhüten. Man darf also
nicht Kunst und leichte Bildung in die Schule tra-
gen, sie weder zur Lehre noch zum Hausfleiß
machen. Menschlichkeit mitteilen heißt Menschen-
werke und ihre plastischen Bedingungen vor phy-
sische Augen führen, Menschenwerke und Worte,
ihre geistigen Elemente, in physische Ohren brin-
gen. Der Literaturstoff selbst ist keine humane
Lehrangelegenheit. Wer Verstand für diese Sachen
hat, ist kein feinerer Mensch als wer zu prakti-
schen Geschäften geschickt ist. Mit ihnen vor Er-
wachsenen Stand und vor Gleichen Auszeichnung,
kurz bürgerliche Bildung begründen wollen, ist
das Ende jeder Tüchtigkeit. Man lasse alle Kinder
an Uebungen im gleichen Geist der Logik teilneh-
men, ohne darauf Unterschiede der Menschen zu
bauen. Der Erzieherberuf ist ein hoher Beruf und

so mannigfaltig wie die Kinder, die er zu seinem
Unterricht vor sich hat. Aber Kritik an der Kunst
gestatten ist wie Kritik am Geschlecht gestatten.
Alle Lehren, die nichts üben, werden dem Vorwitz
nur Mittel zum Zweck, um Einsamkeit und Zu-
sammenleben zu zerrütten. Lehrt die Jungens und
Mädchen aufeinander: es gibt Sodom und Go-

morrha. Erst Sentimentalitäten und Totschießer ein,
dann Aufhebung aller Empfindungen, das ist keine
Erleichterung des Lebens. Das moderne Leben
war etwas vernünftiger geworden, weil mit der
Auf Schließung des Verkehrs der private Mensch
geschützt und die Phantasiebildung herrschender
Cliquen erschwert wurde. Das Weib braucht Ro-
mantik: gut, die Gefahren des Einzellebens sind
die Romantik. Ganz phantasieren ist also das
Freilassen der Frauen, die, sobald man sie aufgibt,
die Zahl der Masse vermehren. Weil der Ge-
schlechtsgenuß Selbstzweck ist, so ist das Zusam-
mensein der Geschlechter doch nicht nur das Mit-
tel zu diesem Zweck, wenn auch das Geschlechts-
leben immer im Mittelpunkt steht. Jedes natür-
liche Mädchen denkt: „Setz dich doch zu mir und
sprich!“ Zu den Dirnen gehen und sie für die Män-
ner sprechen zu lassen, hieß auch romantisch. Mit
Recht antwortet da die Zeitgenossin: „Guck mich
nicht so dämisch an. Den ganzen Tag war ich
draußen, jetzt muß ich schlafen.“ Die Verheiratete
aber wird Ihnen sagen: „Sie haben sich vor einer
großen Selbsttäuschung bewahrt.“ Durch unzwei-
deutige Beispiele wird die Zeit belebt. Ja, jede
Zeit braucht eine andere Art Erziehung. Die Klippe
für die Geschlechtsliebe ist die Erfahrung. Denn
durch Erfahrung wechselt die Liebe ihr Wesen,
wird Leidenschaft oder Vernunft. Daß sie dem
Menschen in kostbaren Fällen Enttäuschungen er-
spart, ist der feine Wert der Kultur. Die Frau,
welche die Befriedigung kennen gelernt hat, kennt
auch das Leben. Es ist darum mit der Anlernung
der Mädchen durch die Geschlechtsfreiheit nichts.
Der Knabe muß die Fähigkeit haben, die ihm zu
seinem Glücke gegebenen Bedingungen aufzusu-
chen. Diese Bedingungen finden sich für nieman-
den zur Knechtschaft. Wenn die Bedingung zur
Ehe. gegeben ist, wird Ehe eine Gemeinschaft sein,
in der wiederum eine unausgesprochene Gegen-
seitigkeit Führerin ist. Heute geniert sich das Mäd-
chen des Jungen, die Frau des Mannes. Diese
Geniertheit setzt das Frühegelernte dem Natur-
gewachsenen entgegen, als eine Dreistigkeit ohne
Leben. Anpassung ist also etwas Bedingendes,
damit unmöglich wird, daß eins über das andere
ohne Rücksicht weggehe. Die Natur hat jedem
Teil eine besondere Form gegeben und es ist
schuldvoll, eine allgemeine Fassung für alle Fälle
zu wiederholen. Kein Wort und Bild braucht erst
auf den Trieb hinzuführen, sondern kann gleich in
das Individuum dringen. Vom determinierten Ge-
schlecht erhält jede Lebensmoral ihren Ursprung,
und die vergeistigte Lebensäußerung entfernt sich
nicht von diesem Ursprung. Die doppelte Moral
ist deshalb verwerflich, weil sie sexuelle Moral ist,
Hier werden fertige Moral und unfertiges Ge-
schlecht zusammengebracht und gegeneinander
gebraucht. Die reinliche Scheidung, die den
Wunsch des intimen Menschen erweckt, nimmt
dem Geschlecht die Willkür. Die jedem Weib be-
sonderen Dinge gehen das heimliche Weib an. Die
Kraft des Mannes kann bewirken, daß sie nicht
vorlaut werden. Der Verkehr mit dem Geschlecht
verlangt persönlichen Nachdruck und eine Sprache
vor urbaner Klarheit, die ihrer Vielfachheit
und doch so ungleicher Sache entsprechen,
wie der Stand der Natur sie ist. Das Frauenhaus
ist eine Gelegenheit für alle Volkskreise. Aber der
Mann hat mehr Gelegenheiten zu nehmen als zu
geben. Das Weib ist die wertvollste Sache, frei-

92
 
Annotationen