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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 190/191 (Zweites Dezemberheft)
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Kohl, Aage von: Der tierische Augenblick
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0152

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geruht hatte. Seit achtunddreißig Stunden. Er
lächelte ein wenig bei dem Gedanken. Aber er
glitt weg von ihm. Es wurde dumpf in seinem
Gehirn.

Die Mannschaft hatte schon längst aufgehört,
böse zu schielen; sie gingen, die Köpfe auf der
Brust. Einige sprachen laut im Schlaf. Wenn
jemand nicht mehr konnte, war keine Rede mehr
davon, sich zu melden; sie sanken lautlos zusam-
men auf dem Weg, die anderen sahen es nicht ein-
mal. Der Krankenwagen war gefüllt und geleert,
wieder gefüllt und geleert. V/enn die Kranken ein
paar Stunden gesessen hatten, mußten sie wieder
herausgeworfen werden, um Platz für Neue zu
geben.

Gegen sieben Uhr waren ungefähr hundertfünf-
zig Mann abgefallen. Kapitän Hoksai ging ein
bischen neben dem Oberst, der an ihn heran-
geritten war. Hatuse schüttelte sich in dem Sat-
tel, er merkte nicht mehr, daß er ohne Haut ritt.
Aber die Hosen klebten an den Schenkeln.

„Wie geht es mit Bentai?“ fragte er plötzlich.

„Es geht, glaube ich!“ antwortete der Kapitän
ein bischen nachher; die Gedanken sammelten
sich so schwer, es war, als verschwanden sie
zwischen den Fingern.

„Er hat wohl sicher heute Nacht auch nicht ge-
schlafen,“ sagte Hatuse, „das haben wir andere
doch!“ fügte er hinzu, und sah auf die schlanke
Gestalt des Leutnants.

Bentai wußte selbst, daß er ab und zu jetzt
schlief. Jedes Mal, wenn er beim Stolpern auf-
wachte, versuchte er auf sich selbst rasend zu
werden, aber es half alles nicht. Er hatte das Ge-
fühl, daß ein anderer Mensch in ihm eingezogen
war. Ein Mensch, dem alles egal war, Pflicht,
Vaterland, Tod. Einer der nur Halt machen wollte,
sich äusruhen, schlafen, trinken. Der Hornbläser,
der hinter ihm ging, griff ihn einen Augenblick in
den Arm. Es half.

Er wurde rasend auf sich selbst, und sandte
deswegen dem Bläser ein paar Augen, wo man
nur das Weiße sah -—: „Sehen Sie sich vor!“
sagte er, und gab ruhig dem andern die Schuld.

Aber nach ein paar Minuten merkte er, daß es
wieder so weit war.

„Ein bischen schneller!“ hörte er sich selbst
sagen. Er machte eine Bewegung mit der Hand,
sie fühlte sich, als bewege sie sich in Wolle oder
in warmem Wasser. Es faßte ihn ein Gedanke,
oder besser ein Bild, eine Zwangsidee: er wollte
sich ein Augenblick ins Bett legen. Das Bett war
ja schon fertig für ihn? Schlafe, sagte einer. Ja,
schlafen! Am liebsten im Wasser!

Als er aufwachte, saß er in dem Krankenwagen.

„Na, es ist doch gut, daß Sie wieder zum Leben
kommen, wir glaubten, Sie würden nie mehr auf-
wachen!“ sagte eine Stimme, und der Arzt beugte
sich zu ihm und reichte ihm eine Schale Wasser.
Bentai schob die Schale fort und richtete sich mit
einmal auf. Er wurde ganz weißlichgelb im Ge-
sicht. Im Wagen! Im Krankenwagen! es ging ein
Brüllen durch ihn. Er war also im Schlaf gefallen!
Er hatte also seine Pflicht verletzt. Seine Ehre
und seine Stellung. Er sprang vom Wagen her-
unter.

Es war dunkel geworden. Das Bataillon lag in
Kompaniekolonnen vor ihm. Ganz zuerst sah er
den Bätaillonsleuchter., der in dem leichten Wind
schaukelte. Er lief dahin. Alle Müdigkeit war
weg. Er mußte wissen, was die anderen von ihm
sagten. Er mußte eine Erklärung abgeben. Er
— mußte — er. wollte —

Und jetzt war er seiner Sache sicher. Sie
sahen herunter auf ihn. Und wie sollten sie an-
ders. Sie wußten ja nicht daß er eine ganze Nacht

länger als sie in Tätigkeit gewesen war. Für sie
stand er also da als ein Offizier, der seine Pflicht
verletzt hat.

Als er von den Kameraden wieder fortging,
war er ganz außer sich. Er suchte im Fieber nach
einem Mittel, um ihnen zu zeigen, daß er trotz allem
doch Soldat war — oder er mußte fort, fort von
allem! —

Er trieb planlos hin, wo seine Kompanie lag. Es
ging wie ein Flüstern, jedesmal wenn die müden
Leute schlafschweren Atem holten. Einige spra-
chen undeutlich im Schlaf.

Plötzlich stand Kapitän Hoksai an seiner Seite
mit der Hand auf Bentais Arm — „hören Sie, lieber
Bentai, der Chef wünscht einen Mann zum Spio-
nieren, noch diese Nacht. Aber wir haben wohl
keinen in der Kompanie? Wir sind ja mehr ge-
braucht als alle anderen. Oder wüßten Sie jemand
in Ihrer Abteilung, der geeignet wäre?“

Es gab Bentai einen Ruck und schnell sagte er
mit heißer Stimme, die viele Klänge in sich hatte:

„Lassen Sie mich gehn, Herr Kapitän?“ er
starrte mit Eifer dem Kapitän in das breite Ge-
sicht.

„Sie!“ — Hoksai lächelte überrascht — „Ein
Offizier? Aber das tun wir niemals!“

Bentai bat nochmals:

„Ja, aber ich kann russisch sprechen.“

Der Kapitän sah auf und nickte, Bentai fühlte
sich beinahe erwürgt vor Angst und Spannung —
vielleicht konnte er jetzt den Kameraden zeigen
daß er Soldat, nichts anders als Soldat, war.

Zuletzt wurde es so wie der Leutnant
wünschte, das Argument, daß er russisch sprechen
konnte war ausschlaggebend. Die Sache war die,
vor Mittag des nächsten Morgens sollte das Ba-
taillon ein russisches Dorf besetzen, das eine Meile
weiter lag. Aber Hatuse hatte durch Späher-
patrouillen Meldung bekommen, daß ein Trupp
Russen dort lagerte. Jetzt mußte man wissen, wie
groß die Truppe war, ehe man angreifen konnte.

Fürst Bentai zog sich mandschurische Bauern-
tracht an und zog ab. Durch das blaue Dunkel,
allein, gegen das Dorf Föng-wang-ta.

Anfangs ging alles nach Wunsch. Gegen halb-
neun passierte er die Vorposten seines Bataillons,
und eine Stunde später war er glücklich durch die
russischen Vedetten geschlüpft. Und jetzt ging er
vorsichtig zwischen den Häusern herum. Zuerst
glaubte er nur eine Abteilung Kosacken zu finden,
aber als er auf dem Tempelplatz kam, der ganz
still und dunkel lag, sah er vor drei, fünf, sieben ja,
acht Häusern die russischen Kompagnieleuchter.

Es gab ein Ruck in ihm vor Freude und Stolz:
Hier also lagen nicht weniger als zwei ganze rus-
sische Kompanien und außerdem eine Menge Ko-
sacken. Und Morgen vormittag, also nach sechs
Stunden, hatte Oberst Hatuse den Plan, das Dorf
anzugreifen.

Jetzt galt es wieder zurückkommen zu können
und verhindern, daß dieser Angriff stattfand. Das
kleine Bataillon Hatuses mußte von dieser Ueber-
macht ganz zu Grunde gerichtet werden. Längs
den Holzhäusern versuchte Bentai sich wieder
wegschleichen zu können, aber überall standen
Kleinpatrouillen aufgestellt, und er mußte versu-
chen denselben Weg wieder durchzukommen.

Auf dem Tempelplatz hatten sie ihn also er-
griffen. Ganz unerwartet, ohne daß er etwas ge-
merkt hatte wurde er von hinten angefaßt, und aus
ein paar Worten verstand er, daß sie ihn sofort für
einen Spion hielten. Eine Viertelstunde nachher
stand er in dem Tempel. Auf jeder Seite ein Mann
mit Flinte und Bajonett. Vor ihm, unter einem
großen rot-goldenen Götzen saß ein Auditor und
ein paar jüngere Offiziere. Das Verhör dauerte

nicht lange. Nur ein paar Fragen auf die Bentai
keine Antwort geben konnte. Dann erhob sich der
Auditor. Ein Stalleuchter, der auf dem Tisch
stand, warf strichförmige Schatten in dem großen
Raum. Das eine Auge des Götzens lag im vollen
Licht.

„Sie sind der Handlung eines Spions überführt.
Sie kennen selbst die Strafe, die Ihnen zuerteilt
wird. Morgen früh werden Sie hingerichtet.“ Er
sprach langsam und gleichgültig, wie einer, der
diese Worte oft gesagt hat.

Er drehte seinen Kopf gegen den Oberst.

„Sie haben wohl nichts hinzuzufügen, Herr
Oberst?“

Der ältere Offizier brummte etwas und streckte
seine Hand aus. Der Auditor steckte ihm eine
Feder zwischen die Finger.

„Es ist ein Füllfederhalter!“ sagte er, als die
Augen des Oberst suchend über den Tisch glitten.
„Eine verteufelt praktische Erfindung!“ fügte er
hinzu.

„Wie lange auf einmal können Sie ihn gebrau-
chen?“ fragte der Oberst; er hatte inzwischen sei-
nen Namen unter das Protokoll gesetzt, worin ge-
schrieben stand: „daß ein nicht mit Namen genann-
ter Spion von einem geschworenen Kriegsgericht
zum Tode durch Erhängen verurteilt sei.“ Einer
der Leutnants Unterzeichnete auch. Die Feder
spritzte.

„Führt den Gefangenen fort!“ sagte der Oberst
wegwerfend und fragte wieder wie lange man die
Feder gebrauchen könnte ohne sie neu füllen zu
müssen.

Bentai wurde für die wenigen Stunden in einem
kleinen Verließ des Tempels untergebracht. Ge-
fesselt an Händen und Füßen lag er auf der Erde.
Draußen ging ein Soldat hin und her mit Flinte
und Bajonett. „O, — Anjanka, du weißer Vogel
meines Herzens“ —- summte er und schritt hart
auf der Erde.

Bentai lag mit geschlossenen Augen. Seine
Gedanken, hitzige, wilde, rasende Tiere im Käfig,
suchten einen Ausweg. Was sollte er machen?
Das Bataillon mußte zu wissen bekommen, wie
groß diese Truppe hier war. Wie konnte er her-
aus? Wie die Fesseln losbekommen?

Wenn er nur den Tempel in Brand setzen
könnte? Aber seine Zündhölzer waren ihm weg-
genommen — sie hatten ihr Teil dazu beigetragen,
daß er für einen Spion gehalten wurde. „Ein Bauer
aus der Mandschurei, der Streichhölzer bei sich
hat — Quatsch!“ hatte der Auditor gesagt.

„O — Anjanka, du weißer Vogel meines Her-
zen; du segelst über den Fluß meiner Gedan-
ken“ — halbsang der Soldat draußen; unter sei-
nen Schritten zitterte die Erde.

Bentai gab beinahe alle Hoffnungen auf, wie
sollte es gelingen? Man hörte einen heftigen
Stoß, die Flinte glitt zur Erde. Gleich nachher ein
murmelnder Laut — der Soldat betete. —- „Heilige
Jungfrau“ hörte Bentai. Es ging eine Idee durch
sein Gehirn. „Schildwache!“ flüsterte er.

Der murmelnde Laut hörte auf, aber keine Ant-
wort.

„Schildwache!“ flüsterte Bentai nochmals, aber
ein bischen lauter. Sein Gehirn pochte gegen Stirn
und Nacken vor Spannung und Energie.

In dem kleinen Guckloch der Tür sah er das
Gesicht des Soldaten leuchten.

„Halts Maul, da drin!“ sagte der, und versuchte
das Dunkel zu durchschauen.

Bentai stöhnte schwach, aber doch so, daß der
Soldat es merken konnte.

„Bruder in Christus!“ flüsterte er und schwieg,
um seine Worte wirken zu lassen; es ging eine
Nadel vor Freude durch ihn, als er merkte daß der

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