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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 192/193 (Erstes Januarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0157

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Der Weg durch
die Nacht

Roman

Aage von Kohl

Glaf.i Morton richtete den Kopf mit einem Ruck
auf — lauschend, unruhig.

Der Dunst des Sommerabends lag heiß und
verschleiernd in der Luft. Eine Pappelallee dort
rechts von ihm erhob ihre dunkle Doppelreihe
wie riesengroße Federn hoch empor gegen den
hellen Himmel. Irgendwo in derselben Richtung
war eine Nachtigall, die plötzlich zu singen anhub.
Uebermäßig süße Blütendüfte kamen in leisen, un-
aufhaltsamen Atemzügen von allen Seiten, misch-
ten sich miteinander, iibertäubten oder unter-
strichen einander, füllten die stillstehende und
laue Atmosphäre mit einem schwindelerregenden
und erstickenden Aroma. Hinter ihm, in der Ferne,
läutete plötzlich die Glocke einer Straßenbahn, und
quer durch dies alles hindurch, gleich dem kaum
hörbar rieselnden Laut einer tiefen, unterirdischen
Ouelle, gleich einer unsagbar leisen, fein vibrieren-
den Klage, kam von da drüben her hinter Tujas
und hinter Weiden, vielleicht ganz nahe und viel-
leicht ganz weit weg, ein zartes und gedämpftes,
ununterbrochenes Schluchzen!

Glaß Morton bildete sich plötzlich ein, an der
Dünnheit dieses Weinens erkennen zu können, daß
es eine ganz junge Frau sein müsse — irgendeine
blutjunge Verlassene, die mit geschwollenen Augen
und verweintem Munde, mit blutendem Herzen
über diesen Fleck Erde gebeugt stand, einen
Namen mit verzweifelter Stimme rief, die Hände
rang, den Boden mit ihren Tränen netzte ... die
schwarze, antwortlose Erde, die üppige und un-
fruchtbare Erde der Gruft!

Eine Sekunde lang fuhr ihm ein brennender
Stich durch die Brust. In der nächsten fühlte er
sich unerklärlich beschwichtigt. Empfand es
gleich nachher wie ein Unrecht, hier zu stehen
und diesen Schmerz hören zu können — wandte
sich deswegen um und wollte gehen.

Im selben Augenblick gewahrte er indessen
einen älteren, weißhaarigen und weißberockten
Aufseher, der ein paar Schritte von ihm stand und
sich mit Sorgsamkeit über ein niedriges, schwarz
gestrichenes Gitter lehnte, beschäftigt, einen klei-
nen, verrosteten, eisernen Stuhl da drinnen zu-
recht zu rücken.

Gewohnt von diesen Leuten begrüßt zu wer-
den, lüftete Morton schweigend seinen Hut und
wollte vorübergehen —- blieb dann aber auf ein-
mal stehen, dem Beamten gerade gegenüber, mit
einem Kopfnicken, ohne selbst recht zu wissen,
weshalb . . . Vielleicht weil ihm das Gesicht des
Mannes neu und sympathisch erschien, und weil
er also möglicherweise . . -

„Guten Abend, mein Herr!“ — sagte der Auf-
seher halblaut, indem er von neuem seine Hand
militärisch an die goldbetreßte Mütze führte.

Noch einen Moment blieben sie beide stehen,
die Köpfe ein wenig zur Seite gewandt, unwillkür-
lich und in Gemeinschaft diesem leisen, spinnenden
Jammer dort hinter den großen, grünen Ge-
büschen lauschend — von denen weiße, schwere
Blutendolden herabhingen, lautlos ihren erdrücken-
den Duft wie von bitteren Mandeln, von Honig
und von Tod ausatmend.

„Gewiß!“ —• sagte der Aufseher endlich, er
zog gleichsam nervös seine Augenbrauen in die
Höhe und nickte kurz — „man hört ja so viel hier
drinnen!“

„Freilich!“ — erwiderte Morton.

„Der Kirchhof,“ — fuhr der andere fort, plötz-
lich in einem entschuldigenden Ton oder vielleicht
auch nur in einem intimeren — „der Kirchhof ist
ja die Stätte des Friedens, milde gesprochen.

Da treffen wir uns doch alle miteinander,
wenn unsere Zeit gekommen ist. Die Erde for-
dert, wie man zu sagen pflegt, und Gott ruft
seine Kinder!

Der Herr ist vielleicht, mit Erlaubnis zu fra-
gen, auch hier draußen, um sich nach seinen An-
gehörigen umzusehen?!“

Glaß schüttelte den Kopf ein wenig, ohne
selbst so recht zu wissen, warum.

„Also nicht!“ —- meinte der Aufseher.

Darauf hob er mit Anstand seine Mütze einige
Zoll in die Höhe, trocknete langsam die Stirn und
das dichte, weiße Haar über dem Scheitel mit
einem großen, rotgemusterten Taschentuch — und
fuhr dann mit derselben ruhigen Stimme wie vor-
hin fort —:

„Ich bin ja übrigens neu hier.

Wenn ich auch zu Neujahr weder mehr noch
weniger als siebenunddreißig Jahre beim Fach
bin — zuerst in der Provinz, dann hier in der
Stadt, nach der Richtung hin . . . und vor gut
vierzehn Tagen wurde ich hierher versetzt, auf
Ansuchen, ergebenst A. Johnson.

Ich weiß nicht, ob der Herr oft genug hierher
kommt, daß er uns am Ende so nach und nach
auseinander halten kann — aber ich hab näm-
lich die Stellung des roten Förster hier bekom-
men, wenn Sie den gekannt haben; jetzt liegt er
da drüben, Gott sei seiner Seele gnädig, er war
ein prächtiger Mann, sagen seine Kameraden —
wir haben eine Ecke für uns, wir, die wir hier
angestellt sind!“

„Wirklich?“ — bemerkte Morton nach einer
Pause.

Er stand da und stützte sich ein klein wenig
schwer auf seinen Spazierstock und starrte unter
den dicken Brauen vor sich hin. Warum blieb
er eigentlich hier stehen, warum ging er nicht
seiner Wege und hielt sich für sich, wie er es
zu tun pflegte? dachte er langsam und mit Mühe.
Warum fuhr er fort, dieser halb verhaltenen
Klage von da drüben her zu lauschen — die
weder seinem Ohr, noch dem irgendeines an-
deren lebenden Wesens etwas zu sagen hatte;
die nur ein beständig strömender Kummer aus
einer unheilbaren Wunde war — blind und wider-
standslos hinabgeflüstert in die dumpfe Erde. Aus
welchem Grunde war er überhaupt hier hinaus-
gegangen — heute, gestern, vorgestern und vor-
vorgestern, und jeden Tag seit damals!? Was
wollte er an diesem Ort — wo Blumen wuchsen
statt derer, die wir entbehrten! Wußte er nicht
im vollstem Maße: hier war Sie auf alle Fälle
nicht, war nie hier gewesen!

„Jawohl!“ — antwortete er dann unwillkür-
lich, undeutlich empfindend, daß gewiß eine fra-
gende Pause in den Worten des Alten war —
und er versuchte, um die Gedanken zu meiden,
die ihn eben umfangen hatten, und um gleichsam
diesen zarten Schmerzenslaut von da drüben her
zu iibertäuben, dem zu lauschen, was ihm er-
zählt wurde —:

„Nein,“ — hörte er, anfangs nur halb im-
stande aufzufassen — weil ihn plötzlich zum
zweitenmal eine gleichsam ganz schwache Ah-
nung ergriff, daß er diesen Mann gewiß nach
etwas zu fragen beabsichtige. Aber wonach?
Was konnte es sein? Der Aufseher kannte ihn
ja nicht einmal — oder war es vielleicht gerade
deswegen? War es also etwas über . . . Sie?

„Nein! Viele finden ja deshalb auch alles,
was hier zu diesem Ort gehört, eine . . . miß-
liche Beschäftigung, wenn ich diesen Ausdruck
von einer so bürgerlichen und christlichen Wirk-
samkeit gebrauchen darf! Denn man bewegt
sich ja doch, insofern, von morgens bis abends
das ganze Jahr hindurch zwischen alle dem her-
um — was wir Menschen nun einmal nicht lei-
den können!

So zum Beispiel vorletzten Sonntag, den zwei-
ten Tag, nachdem ich meine Stellung als Auf-
seher hier angetreten hatte, da hatten wir, was
man so ganz äußerlich ein feineres Begräbnis
prima Sorte nennt!

Aber nach innen zu war es, Gott soll mich
bewahren, wohl so ungefähr das Schlimmste, was
ich mir vorstellen konnte, als Anfang auf meinem
neuen Platz —- wenn auch meine Rolle bei dem
ganzen ja eine außerordentlich untergeordnete
war, um nicht geradezu zu sagen, daß ich bloß
dastand und zusah!

Es war ein sehr reiches und vornehmes Ehe-
paar; noch dazu ein Graf, glaube ich; junge, ge-
sunde Leute, die alle beide, jedes auf seine Weise,
ganz famos aussahen, und die hatten nun ihr
einziges Kind verloren! Ein kleines Mädchen
war es, von sechs, sieben Jahren — möchte ich
sie taxieren, nach der Kleinheit des Sarges zu
urteilen, und nach dem, was auf den Kränzen
stand!

Na, der Pastor war ja auch schon mit seiner
Rede und mit dem Erdeaufwerfen fertig; sie hat-
ten einen Gesang gesungen, und das Gefolge
wollte sich gerade verabschieden — das ganze
ging da drüben in der östlichen Ecke vor sich,
Sie können die Stelle von hier aus nicht sehen,
wegen der Kapelle da — und ich möchte sowas
nicht noch mal erleben, denn da geschah es, daß
sich die Mutter, die junge Gräfin, die die ganze
Zeit starr und stumm und ohne auch nur mit
dem Gesicht zu zucken, dagestanden hat, daß die
sich plötzlich von ihrem Mann losreißt, der sie
am Arm hatte; sie stößt einen kurzen Schrei aus
und stürzt sich kopfüber in das Grab hinein! Das
gab einen Knall, versichere ich Sie, Erdklumpen
und Staub und Schmutz kollerten mit hinunter, sie
wirft sich ganz außer sich auf den Sarg, sie klam-
mert sich mit Händen und Füßen fest und schreit,
daß sie ihr Kind nicht hergeben will, daß sie es
nicht lassen will, sie will hier bleiben, sie will
bei ihrem kleinen Mädchen bleiben, das sie selbst
zur Welt gebracht hat, und kein Mensch hat das
Recht, sie hier wegzunehmen!

Vier oder fünf außer ihrem Mann,“ — fuhr er
nach einer kleinen Weile fort, indem er sein Ge-
sicht ein wenig erhob — „mußten sie mit Ge-
walt fortschaffen, sie sah so aus wie eine Leiche,
als sie sie nach dem Wagen trugen, nie im Leben
vergesse ich den Laut in meinem Ohr, wie sie
auf den Deckel des Sarges aufprallte — und Wil-
liam, der Totengräber, der ein wenig abseits zu-
sammen mit mir hinter ein paar Büschen gestan-
den hatte, der sagte, als sie sie weggebracht hat-
ten (und er war, bei Gott, so weiß im Gesicht
wie mein Rock hier) — der sagte: Die kommt
wieder, das können Sie mir glauben, sagte er, die
kommt wieder, so wahr ich hier stehe! Ehe eine
Woche vergangen ist, kommt die wieder — und
dann tragen sie sie von dem Wagen hierher!

Und das tat sie denn auch! ganz richtig, mein
Gott, was soll man dazu sagen, es ist nu einmal
schlimmer für eine Frau — als wie für uns
Männer!“

Morton nickte ein- oder zweimal.

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