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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 194/195 (Zweites Januarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [2]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0166

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„Sagen Sie mir!“ — fragte er kurz, indem er
es vermied, dem Blick des Mannes zu begegnen
-v- mit einem unerklärlichen und heftig aufregenden
Gefühl, daß er jetzt die Frage an ihn stelle, an die
er die ganze Zeit hindurch gedacht hatte —:

„Erzählen Sie mir einmal —:

Es ist das erstemal, daß ich am Abend hierher
gegangen bin!

Ich pflege sonst immer früh des Morgens hier-
her zu kommen und habe daher vielleicht noch
keine Gelegenheit gehabt . . . kurz: ich weiß, daß
es Menschen gibt die allen Ernstes behaupten,
daß . . — er war nach und nach ins Stocken ge-

raten, empfand ein Bedürfnis, sich über sich selbst
zu ärgern und zu lachen, entschloß sich jetzt so
zu tun, als habe er vorhin etwas ganz anderes
sagen wollen — konnte sich dann aber plötzlich
nicht mehr beherrschen.

Er legte seine Hand auf den Arm des Auf-
sehers —:

„Sagen Sie mir,“ — wiederholte er; selbst voll-
kommen bewußt, daß es eine ganz lächerliche
Frage war, die er tun wollte, daß er nur eine
lächerliche Antwort erhalten könne, doch fieber-
heiß darauf wartend — „Sie deuteten vor ein paar
Minuten an, daß es mit den alten Kirchhöfen ist
wie mit Schlössern und Herrenhäusern aus den
Zeiten unserer Vorfahren: sie haben ein jedes seine
Reihe von Sagen, ein jedes seine Mystik! Nicht
wahr, man erzählt sich vermutlich unter vier
Augen auch eine ganze Menge von diesem Orte
hier — sowohl älteren, als auch neueren Datums!
merkwürdige Dinge, die hier drinnen gedeihen,
wenn die Türen geschlossen werden, und es Nacht
geworden ist — wenn man allein hier drinnen ist
mit allen den Toten, und wenn alles in der Dunkel-
heit, in der lautlosen Stille, auf einmal Form und
Farbe wechselt!

Sie sind ja, wie Sie mir vorhin sagten, nicht
weniger als siebenunddreißig Jahre an verschiede-
nen Kirchhöfen angestellt gewesen —■ : haben Sie
denn niemals persönlich . . . ich meine, ist Ihnen
nirgends etwas von der Art begegnet?

Was?!

Es fällt mir so ein, hahaha!

Wenn Sie also grundsätzlich nichts dagegen
haben, von Erlebnissen dieser Art zu reden?!“

Der Mann lachte ein wenig; vielleicht doch —
meinte Morton und geriet ganz außer Atem vor
Spannung — vielleicht doch etwas weniger frisch
als es klingen sollte?

„Nun ja!“ antwortete der Aufseher darauf und
schüttelte den Kopf — „man hört ja so viel, es
geht in das eine Ohr hinein und aus dem anderen
wieder heraus! Und die Zeit ist ja heutzutage nicht
danach, mein Herr, heute, wo man so erleuchtet
ist — sowohl mit Gas wie mit Elektrizität!

Nein“ — fuhr er fort, diesmal ernsthafter —
„ganz privatim muß ich sagen, wie es ist, daß mir
niemals weder das eine noch das andere begeg-
net ist, weder ein Gesicht, noch Stimmen oder ge-
wöhnliche Gespenster . . . und insofern sollte man
am Ende vielleicht, offen gestanden, alles das für
Ammenmärchen halten . . . was ich also auch ge-
wöhnlich tue, Fremden gegenüber!

Aber.

Auf der anderen Seite.

Ja, ich bin ja unter uns ein ungelehrter Mann,“
— fuhr er fort — „ich kann daher nicht ausrech-
nen, wovon dergleichen Ideen über die ganze
Welt zu den Leuten gekommen sein sollten von
Anfang an — wenn nicht schließlich doch etwas
daran sein sollte! Selbst wenn ich, wie gesagt,
persönlich nie so etwas erlebt habe!

Oder was soll man nun zum Beispiel davon
denken, daß ... ja, es ist vielleicht verkehrt, daß

man hier steht und über so etwas redet, alldie-
weil wir in dem Punkt ja doch allzumal nur Men-
schen sind, wie man zu sägen pflegt, und nie wis-
sen, welchen Schaden wir unversehens einander
damit zufügen können . . . Aber was soll man nun
davon glauben, daß sowohl hier in der Stadt, wie
auch da drüben, woher ich gekommen bin, viele
sehr ruhige und zuverlässige Leute, die noch da-
zu zum Fach gehörten, heilig und teuer behaupte-
ten, daß ihnen hier oder da etwas begegnet sei!

Sehen Sie, da drüben hatten wir unter ande-
rem auch einen weißgekleideten älteren Herrn, den
mehr als einer von uns in gewissen Nächten sozu-
sagen aus einem großen Marmormonument hatte
herauskommen und mir nichts, dir nichts über die
Gräber stolzieren sehen, von Stein zu Stein!
manchmal sprach er auch, und es war gewiß nicht
ratsam, ihm nahe zu kommen, denn dann starrte
er einen an, so daß einem die Haare auf dem Kopf
von selbst zu Berge standen, und einem das Herz
in der Brust Stillstand! Sie sagten übrigens, er
ginge da herum und riefe den Namen seiner Toch-
ter weil sie nie was für sein Grab getan hatte,
sondern es wildfremden Leuten überließ, dafür zu
sorgen!“ — Er schwieg, schüttelte den Kopf, sah
zu Morton empor und lachte dann ein wenig, offen-
bar etwas unsicher.

„Sehr interessant!“ — warf Glaß ein. Er ver-
suchte ermunternd zu lachen, legte von neuem
seine Hand auf den Arm des andern, fühlte wie
sein Hals vor Angst trocken war, wie ihm die
Zunge im Munde festklebte — „aber nun hier?

Hier ist vielleicht derartiges?

Oder Sie sind vielleicht zu neu hier in der
Stellung, als daß Sie davon hätten reden hören?“
— Er zog die Augenbrauen mit einem Ruck in die
Höhe und sah den andern von der Seite an —
mit verhaltenem Atem, eine rätselhafte, zerflei-
schende Qual im tiefsten Innern, zugleich wahn-
sinnig gequält, weil er fortfuhr, die abscheulichen,
nichtssagenden Fragen zu stellen -— und doch er-
stickend krank vor Begierde, eine Antwort zu er-
langen. Still, sei jetzt vorsichtig, dachte er wäh-
renddes bei sich, gib Acht, daß der Alte nicht Un-
rat ahnt!

„Nicht wahr?“ —• schloß er in einem unver-
schleiert auffordernden Ton —:

„Es würde mich außerordentlich freuen, davon
zu hören!

Ich glaube obendrein, daß Sie gerade eben ge-
sagt haben, Sie hätten auch Sachen recht neuen
Datums . . .?“

Er mußte seine Hand von dem Arm des anderen
fortnehmen, um sich nicht zu verraten, zog dann
mit zitternden Fingern sein Zigarrettenetui heraus,
öffnete es —:

„Bitte schön, wollen Sie nicht rauchen — oder
doch wenigstens ein paar einstecken. Ich finde,
die Mücken werden jetzt schon so zudringlich,
weil die Sonne untergegangen ist!

Wie?“

Und während er sich bemühte, eine Zigarette
anzuzünden, wartete er mit pochendem Herzen
darauf, was gesägt werden würde.

„Freilich habe ich davon gehört“ — antwortete
der Aufseher endlich, nachdem er umständlich die
angebotenen Zigaretten mit einem Kratzfuß ein-
gesteckt hatte; er lachte von neuem und kniff
munter die Augen zusammen —: „Wohl weiß auch
ich was von dem, was man sich hier auf dem
Friedhof erzählt!

Da ist auch unter anderem diese „französische“
Dame, wie sie sie nennen — ich weiß nicht aus
welchem Grund — die sich Jahr für Jahr in jeder
Neujahrsnacht mit einem großen, gelb- und rotge-
streiften Schal über den Schultern irgendwo auf

dem Dach der Kapelle blicken läßt, wo sie auf dem
schmalen Dachfirst hinter dem Kreuz mit ausge-
breiteten Armen steht, ohne sich zu rühren — und
das hat sie nun getan, seitdem die Kapelle vor
hundert Jahren auf derselben Stelle erbaut wurde,
wo ihr Grab damals lag!

Na, aber von den neueren Sachen, wie Sie
sagen, da ist ja. . . aber entschuldigen Sie, ich gebe
dies alles ja für nichts weiter aus als für Geschich-
ten, die mir so ganz lose in einer müßigen Stunde
erzählt worden sind. Wenn der Herr also für diese
Bücher oder wissenschaftlichen Werke darüber
hören wül, dann müßten Sie sich die Geschichten
beinah lieber von den Betreffenden selbst erzählen
lassen, die sie in eigner Person erlebt haben?“

Morton schüttelte, starr lächelnd, den Kopf —:

„Du großer Gott, erzählen Sie nur!“ stammelte
er kurz, versuchte mit den Schultern zu zucken,
an allen Gliedern vor Erregung zitternd —: „mit
dergleichen Sachen gebe ich mich bei meinen
Schreibereien gar nicht ab!

Und es ist auch nur, weil ich sonst immer des
Morgens hierher komme, daß ich zufällig noch
flicht darauf verfallen bin, die andern auszufragen!“

„Ja, ja,“ — fuhr der Aufseher fort, unwillkür-
lich in schnellerem Tempo — „dann will ich Ihnen
ganz offen erzählen: daß wir ja also aus den letzten
Jahren in erster Linie ein glanz kleines Mädchen
haben, das zusammen mit seiner Mutter ertrank;
das Kind haben sie also wieder aufgefischt, wenn
auch erst eine ganze Zeit, nachdem es schon tot
war — aber die Mutter hat man nie gefunden, und
darum spukt ja nun die Kleine! Es soll übrigens
geradezu angenehm sein, ihr zu begegnen! Das
geht so zu: Wenn einmal einer von den Totengrä-
bern oder ein Aufseher, wer es nun sein mag, zu-
fällig ein wenig später als gewöhnlich des Abends
nach Hause gehen will, durch die große Pforte da
drüben auf der andern Seite, dann fühlt er manch-
mal, gerade während er an den vier Hängebirken
auf der Rotunde vorüberkommt, plötzlich eine ganz
kleine Hand in der seinen,)und es ist ihm, als könne
er ganz deutlich das kleine Wurm hören, wie es
ihn bittet, der Mutter zu sagen, wenn er sie einmal
treffen sollte: daß ihr kleines Mädchen hier auf
sie wartet! . . . und am Abend, wo ihm das begeg-
net, und wo man nicht bange geworden ist, son-
dern ihr redlich verspricht, um was sie bittet —
dann pflegt irgend etwas Gutes am nächsten Tag
für einen in Bereitschaft zu sein — w/e nun zum
Beispiel der verstorbene rote Förster, der gerade
an dem Tage nach dem einzigen Mal, wo er dem
Kinde begegnet war, in der Lotterie gewonnen hat!

Und dann haben wir ja, nebenbei bemerkt —
denn das hat natürlich weniger Interesse für Sie,
weil sie ja nur ein einziger gesehen hat und auch
nur ein einziges Mal, und der sie außerdem noch
aus dem Leben her kannte, nämlich von drüben
her, aus der Stadt, Wb ihr Vater früher Bürger-
meister war!“

„Ganz recht!“ — erwiderte Morton plötzlich
heiser, gierig lauschend, nach Luft schnappend, die
eine Hand gegen das Herz gepreßt, wahnsinnig
kämpfend, um nichts hören oder sehen zu lassen
— „aber erzählen Sie mir doch nur davon!

Es interessiert mich ganz außerordentlich, kön-
nen Sie mir glauben, dies alles!

Erzählen Sie mir also — erzählen Sie mir ge-
rade heraus, was man sonst noch sagt über . . .
über sie?!“

„Ja-a“ — fuhr der andere grübelnd fort — „sie
soll ja auf eine ganz unerhört gräßliche Weise ums
Leben gekommen sein!

Gemordet, versteht sich, ich weiß nicht genau,
wie, aber jung und schön und liebreizend, sagen
sie, ist sie gewesen — und verheiratet übrigens

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