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Zeitschrift für christliche Kunst — 1.1888

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Schneider, Friedrich: Unsere Pfarrkirchen und das Bedürfnis der Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.3545#0099

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161

18S8. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

1G2

unserer Seelsorgsgeistlichen für mich zu haben.
Mag die Berechtigung dreischiffiger Anlagen
unter historischem Gesichtspunkte immerhin
vertreten werden, so stelle ich einfach die
Forderung entgegen, dafs der Bau in erster
Linie dem Bedürfnifs zu dienen und ihm
nicht Hindernisse zu schaffen habe. Unsere
Zeit macht in Hinsicht des pfarrlichen Gottes-
dienstes ganz andere Ansprüche, wie die
Zeiten des Mittelalters. In der Geschlossenheit
unseres Pfarrgottesdienstes liegt ein hohes Gut,
das mit allen Mitteln zu erhalten ist. Stellt
schon die grofse Seelenzahl der erwachsenen
Gemeindeglieder bedeutende Anforderungen an
den Raum der Kirche, so werden dieselben
noch gesteigert durch die grofse Zahl der
schul- und kirchenpflichtigen Kinder. Keine
der vorausgegangenen Zeiten hatte Kinder
von dieser Zahl in geschlossener Masse unter-
zubringen. Die Verhältnisse lagen eben anders;
heute zwingen sie uns, mit durchschnittlich
viel gröfseren Zahlen für unsere Pfarrkirchen
zu rechnen.

Man wende nicht ein, dafs damit die her-
kömmliche Anlage unserer Kirchen umgestofsen
und der Architektur ein beengender Zwang
auferlegt werde. Abgesehen davon, dafs die
letzten Jahrhunderte eine Menge derartiger
Kirchen uns überliefert haben, die nur auf
Grund des Bedürfnisses so und nicht anders
entstanden sind, bietet das Mittelalter gerade
aus Zeiten und Gegenden, wo mit grofser Volks-
zahl zu rechnen war, eine Fülle von Beispielen,
die den Beweis liefern, wie sehr man es allzeit
verstanden hat, dem Bedürfnifs entgegen zu
kommen und Lösungen von vollendet künst-
lerischer und zugleich zweckdienlicher Art zu
schaffen.

Die einschiffige Anlage will mir darum für
die Pfarrkirche am geeignetsten erscheinen.
Die frühgothische wie die hochgothische Zeit
haben, namentlich im westlichen und mittägigen
Theil von Frankreich') und in den volkreichen
Städten von Spanien2), eine Reihe der herrlich-
sten Kirchenbauten aufzuweisen, welche nicht

J) Vgl. Dehio u. v. Bezold, Die kirchl. Baukunst
des Abendlandes, 1887. Kap. 6, S. 321—31, wo zum
erstenmal dieser so wichtigen Anordnung gebührend
Rechnung getragen wird.

2) Vgl. G. E. Street, Gothic Achitecture in Spain,
2. ed. 1868. Dazu die „Reise -Mittheilungen aus
Spanien" von J. Graus im Grazer „Kirchenschmuck"
1887 u. 1888."

genug als Vorbilder dieser Art empfohlen werden
können. Man ist dabei. nicht auf die einfache
Halle beschränkt; unter Umständen ist auch
eine Anlage zulässig, wo der weite Mittelraum
von schmalen Seitengängen begleitet ist. Die
vorzüglichste Lösung dürfte aber in einer Halle
gefunden werden, an deren Seiten innerhalb
der hereingezogenen Streben Kapellen angelegt
sind. Damit ist der Privatandacht ihr Recht
gewahrt: die Kirche erhält neben ihrem weiten
Mittelraum ansprechende Gebetswinkel, die zur
Pflege besonderer Andacht sich vortrefflich
eignen. Wie vieler Kirchen alter Zeit erinnere
ich mich, wo gerade der Gegensatz zwischen
dem imposanten Hauptschiff und den stillen
Andachtsstätten zu Seiten so stimmungsvoll
wirkt. Keine Stilrichtung findet an einer solchen
Anlage ein Hindernifs. Die Bauten alter Zeit
enthalten die deutlichsten Fingerzeige, wie Fälle
derart zu lösen sind.3) (Vgl. Abb. S. 157/158.)
Schreckte man doch nicht davor zurück, dem
Schiffraum z. B. in Albi die gewaltige Spannweite
von 25 m zu geben. Wir dürfen uns mit viel
weniger begnügen und haben dabei tektonische
Hilfsmittel zur Verfügung, wie sie die Alten nicht
hatten. Weder archäologische, noch bautech-
nische oder ästhetische Gründe können daher
den von mir gemachten Vorschlag entkräften.
Bezüglich der ästhetischen Seite der Frage sei
übrigens noch ein Wort angebracht. Viele
unserer neuen Kirchenbauten wirken von aufsen
in der Masse und in der Silhouette ganz gut:
manches Stadtbild hat durch kirchliche Neu-
bauten schon erheblich gewonnen. Tritt man
in die Kirche ein, so harrt unserer zumeist
eine Enttäuschung: die Raumwirkung ist klein;
die Verhältnisse sind unbefriedigend; die For-
mengebung ist ängstlich, und der Gesammt-
eindruck modern, unbefriedigend. Woher kommt

3) Zum Beleg gebe ich hier zwei Beispiele aus
älterer Zeit, wovon das eine, Perpignan, der Hoch-
gothik, Santa Cruz zu Valencia, der Spätgothik, San
Juan ebendas. der Zeit des XVI. Jahrhunderts ange-
hört. Die Verlagshandlung „Styria" in Graz hat die
bezüglichen Grundrifs-Abbildungen aus dem „Kirchen-
schmuck" mit dankenswerther Bereitwilligkeit zur Ver-
fügung gestellt. Daneben theile ich zwei Beispiele
der Neuzeit mit: die von Hauberisser 1880 be-
gonnene gothische Herz-Jesukirche in Graz (Steier-
mark), von der wir den Grundrifs gleichfalls der
Güte des genannten Verlages verdanken, und einen
von Ludwig Becker in Mainz kürzlich gefertigten
Entwurf in den Formen rheinischer Uebergangs-
architeklur.
 
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