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1888.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.
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namentlich der Mithülfe des Auges sich bedienen
möchten. Hier ist der Anschauungsunterricht von ganz
besonderer Wichtigkeit. Das Auge muss beim theo-
retischen Unterricht die Rolle des Erklärers übernehmen;
es ist der Schatzmeister, welcher eine Fülle von Bildern
im Gedächlniss aufsammelt und so eine verinnerlichte,
so recht zu eigen gewordene Kunstwelt schafft; das
Auge muss geschärft und immer feiner ausgebildet
werden, damit es eine Fertigkeit erlangt, Kunstwerke
zu erfassen, zu gemessen, ihnen Zeit und Rang anzu-
weisen. Darum hat man mit Recht auch die Hand-
bücher immer reichlicher mit Illustrationen bedacht;
ich möchte Ihnen aber rathen, dazu noch Seemann's
Kunsthistorische Bilderbogen zu erwerben,
welche um verhältnissmässig kleinen Preis (die ganze
Sammlung kostet 30 M., das treffliche Textbuch dazu,
Leipzig, Seemann 1879, geb. 4,30 M.) eine gewaltige
Fülle meist guten Anschauungsmaterials aus dem ganzen
Gebiet der Kunst beibringen, einschliesslich des Kunst-
handwerks, des Barock- und Zopfstils und der Kunst |
des XIX. Jahrhunderts. Sodann möchte ich Ihnen
empfehlen, sobald Sie einige Stilkenntnisse sich an-
geeignet haben, aus jedem Stile je ein grosses Para-
digma auszuwählen und an der Hand einer Monogra-
phie gründlich durchzustudiren; nichts befestigt und
vertieft mehr die Kenntniss eines Stiles, als eine rechte
geistige Aneignung eines der Hauptwerke desselben;
an Monographien dieser Art ist kein Mangel (z. B.
Schneider, Dom von Mainz, Berlin, Ernst 1886;
Müller, Katharinenkir che zu Oppenheim,
Frankfurt; Paulus, Maulbronn und Beben-
hausen, Stuttgart 1883 u. 1886; Kraus, Münster
von Strassburg, 1877, Separatabdruck aus „Kunst
und Alterthum" in Elsass - Lothringen; Helmken,
Der Dom zu Köln, 1880). Noch mehr ist natürlich
zu empfehlen eigenes Reisen und eigene Aufnahme
von Photographien aus der Wirklichkeit auf die Netz-
haut des Auges.
Haben Sie in dieser Literatur sich umgesehen und
wenigstens einen Theil derselben durchstudirt, so be-
dürfen Sie keiner fremden Leitung und Führung mehr.
Sie sind geübt und geschult genug, um mit Nutzen
und mit eigenem Urtheil die grossen kunsthistorischen
und stilistischen Werke zu lesen, au welchen die neueste
Zeit sehr reich ist. Sie werden gerne durch Otte's
von Auflage zu Auflage vervollkommnetem und mit
staunenswerter Fülle von Stoff vollgesogenem Hand-
buch der kirchlichen Kunstarchäologie des
deutschen Mittelalters (5. Aufl. besorgt von Ernst
Wernicke, Leipzig, Weigel 1884, 2 Bde.) sich Deutsch-
lands Kunstreichthümer vorführen lassen. Sie werden
sich vertiefen in die bedeutenden stilistischen Werke
von G. Dehio und G. von Bezold Die kirch-
liche Baukunst des Abendlandes (Stuttgart,
Cotta 1884, 2 Bände) und Essenwein, Der christ-
liche Kirchenbau (Darmstadt, Bergsträsser 1886,
gehört zu dem Riesenwerk des gleichen Verlags: Hand-
.buch der Architektur). Sie werden sich zu vergleichen-
den Stilstudien anleiten lassen durch Hittenkofers
Vergleichende architektonische Formenlehre
(Leipzig, Schollze) und auch in die verworrene Well
der Stile der Spätzeil sich einführen lassen durch E b e
Die Spätrenaissance, (Berlin, Springer 1886,
2 Bde.) und Gurlitt Geschichte des Barock-
stils, des Rokoko und des Klassizismus,
(Stuttgart, Ebner 1886 ff.), ja vielleicht selbst eine
Lust verspüren, mit G. Perrot und Ch. Chipiez
Histoire de l'art dans l'antiquite, (Paris, Röchelte
1882—85 f. I—III; der erste Band übersetzt von
R. Pietschmann, Leipzig, Brockhaus 1884; die Illu-
strationen vorzüglich, der Text mangelhaft) längeren
Aufenthalt im Bereich der antiken Kunst zu nehmen.
In hohem Grad wird Sie auch anziehen und befrie-
digen das monumentale Werk: Geschichte der
deutschen Kunst, das bei Grote in Berlin seit
1885 erscheint (Baukunst von Dohme, Plastik
von Bode, Malerei vonjanitscheck, Kunst-
gewerbe von Falke) und die erste grössere ka-
tholische Kunstgeschichte von Ad. Fäh Grund-
riss der Geschichte der bildenden Künste,
(Freiburg, Herder 1887, erschienen sind 3 Liefg.),
ferner H. Knackfuss Deutsche Kunstge-
schichte (Bielefeld u. Leipzig, Velhagen u. Klasing
1888, 2 Bde.), ein in jeder Hinsicht vorzügliches Buch.
Doch ich muss abbrechen, um die Bücherliste nicht
endlos werden zu lassen und Sie am Ende mehr ab-
zuschrecken als anzulocken. Nur die besten Nach-
schlagebücher seien noch genannt. Gute archä-
ologische Wörterbücher verdanken wir Otte
(2. Auflage, Leipzig 1877) und Müller-M othes
(Leipzig 1877, 2 Bde., illustr.), ferner L. Gerlach
(Illustr. Wörterbuch der mittelalterl. Kirchenbaukunst,
Ebner, Stuttgart 1888). Die Realencyklopädie
der christl. Alterthümer von F. H. Kraus (Frei-
burg, Herder 1882 —1886) ist Ihnen bekannt. Ein
praktisches Nachschlagebuch in Sachen der christl.
Kunst ist das an Illustrationen sehr reiche Werk von
Carl Atz ,,Die christliche Kunst in Wort und Bild"
(Würzburg, Wörl 1884).
Und mm Glück auf zu Ihrer ersten Wanderung!
Mögen die Pfade anfangs beschwerlich und hart sein,
sie führen hinauf zu den Höhen, droben lohnt sich
die Mühe in der sonnenwarmen, klaren Höhenluft, in
dem weiten Umblick. Aber haben Sie Acht, dass Sie
nicht auf Irrwege sich verlocken lassen, die vielleicht
zunächst in lachende Auen zu fuhren verheissen, aber
in Abgründen enden. Nehmen Sie zum sichern Kom-
pass das Wort St. Augustins: „Wo Ordnung
herrscht, da ist Schönheit und jede Ord-
nung kommt von Gott."
Ihr ergebener
Prof. K e p p 1 e r.
1888.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 10.
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namentlich der Mithülfe des Auges sich bedienen
möchten. Hier ist der Anschauungsunterricht von ganz
besonderer Wichtigkeit. Das Auge muss beim theo-
retischen Unterricht die Rolle des Erklärers übernehmen;
es ist der Schatzmeister, welcher eine Fülle von Bildern
im Gedächlniss aufsammelt und so eine verinnerlichte,
so recht zu eigen gewordene Kunstwelt schafft; das
Auge muss geschärft und immer feiner ausgebildet
werden, damit es eine Fertigkeit erlangt, Kunstwerke
zu erfassen, zu gemessen, ihnen Zeit und Rang anzu-
weisen. Darum hat man mit Recht auch die Hand-
bücher immer reichlicher mit Illustrationen bedacht;
ich möchte Ihnen aber rathen, dazu noch Seemann's
Kunsthistorische Bilderbogen zu erwerben,
welche um verhältnissmässig kleinen Preis (die ganze
Sammlung kostet 30 M., das treffliche Textbuch dazu,
Leipzig, Seemann 1879, geb. 4,30 M.) eine gewaltige
Fülle meist guten Anschauungsmaterials aus dem ganzen
Gebiet der Kunst beibringen, einschliesslich des Kunst-
handwerks, des Barock- und Zopfstils und der Kunst |
des XIX. Jahrhunderts. Sodann möchte ich Ihnen
empfehlen, sobald Sie einige Stilkenntnisse sich an-
geeignet haben, aus jedem Stile je ein grosses Para-
digma auszuwählen und an der Hand einer Monogra-
phie gründlich durchzustudiren; nichts befestigt und
vertieft mehr die Kenntniss eines Stiles, als eine rechte
geistige Aneignung eines der Hauptwerke desselben;
an Monographien dieser Art ist kein Mangel (z. B.
Schneider, Dom von Mainz, Berlin, Ernst 1886;
Müller, Katharinenkir che zu Oppenheim,
Frankfurt; Paulus, Maulbronn und Beben-
hausen, Stuttgart 1883 u. 1886; Kraus, Münster
von Strassburg, 1877, Separatabdruck aus „Kunst
und Alterthum" in Elsass - Lothringen; Helmken,
Der Dom zu Köln, 1880). Noch mehr ist natürlich
zu empfehlen eigenes Reisen und eigene Aufnahme
von Photographien aus der Wirklichkeit auf die Netz-
haut des Auges.
Haben Sie in dieser Literatur sich umgesehen und
wenigstens einen Theil derselben durchstudirt, so be-
dürfen Sie keiner fremden Leitung und Führung mehr.
Sie sind geübt und geschult genug, um mit Nutzen
und mit eigenem Urtheil die grossen kunsthistorischen
und stilistischen Werke zu lesen, au welchen die neueste
Zeit sehr reich ist. Sie werden gerne durch Otte's
von Auflage zu Auflage vervollkommnetem und mit
staunenswerter Fülle von Stoff vollgesogenem Hand-
buch der kirchlichen Kunstarchäologie des
deutschen Mittelalters (5. Aufl. besorgt von Ernst
Wernicke, Leipzig, Weigel 1884, 2 Bde.) sich Deutsch-
lands Kunstreichthümer vorführen lassen. Sie werden
sich vertiefen in die bedeutenden stilistischen Werke
von G. Dehio und G. von Bezold Die kirch-
liche Baukunst des Abendlandes (Stuttgart,
Cotta 1884, 2 Bände) und Essenwein, Der christ-
liche Kirchenbau (Darmstadt, Bergsträsser 1886,
gehört zu dem Riesenwerk des gleichen Verlags: Hand-
.buch der Architektur). Sie werden sich zu vergleichen-
den Stilstudien anleiten lassen durch Hittenkofers
Vergleichende architektonische Formenlehre
(Leipzig, Schollze) und auch in die verworrene Well
der Stile der Spätzeil sich einführen lassen durch E b e
Die Spätrenaissance, (Berlin, Springer 1886,
2 Bde.) und Gurlitt Geschichte des Barock-
stils, des Rokoko und des Klassizismus,
(Stuttgart, Ebner 1886 ff.), ja vielleicht selbst eine
Lust verspüren, mit G. Perrot und Ch. Chipiez
Histoire de l'art dans l'antiquite, (Paris, Röchelte
1882—85 f. I—III; der erste Band übersetzt von
R. Pietschmann, Leipzig, Brockhaus 1884; die Illu-
strationen vorzüglich, der Text mangelhaft) längeren
Aufenthalt im Bereich der antiken Kunst zu nehmen.
In hohem Grad wird Sie auch anziehen und befrie-
digen das monumentale Werk: Geschichte der
deutschen Kunst, das bei Grote in Berlin seit
1885 erscheint (Baukunst von Dohme, Plastik
von Bode, Malerei vonjanitscheck, Kunst-
gewerbe von Falke) und die erste grössere ka-
tholische Kunstgeschichte von Ad. Fäh Grund-
riss der Geschichte der bildenden Künste,
(Freiburg, Herder 1887, erschienen sind 3 Liefg.),
ferner H. Knackfuss Deutsche Kunstge-
schichte (Bielefeld u. Leipzig, Velhagen u. Klasing
1888, 2 Bde.), ein in jeder Hinsicht vorzügliches Buch.
Doch ich muss abbrechen, um die Bücherliste nicht
endlos werden zu lassen und Sie am Ende mehr ab-
zuschrecken als anzulocken. Nur die besten Nach-
schlagebücher seien noch genannt. Gute archä-
ologische Wörterbücher verdanken wir Otte
(2. Auflage, Leipzig 1877) und Müller-M othes
(Leipzig 1877, 2 Bde., illustr.), ferner L. Gerlach
(Illustr. Wörterbuch der mittelalterl. Kirchenbaukunst,
Ebner, Stuttgart 1888). Die Realencyklopädie
der christl. Alterthümer von F. H. Kraus (Frei-
burg, Herder 1882 —1886) ist Ihnen bekannt. Ein
praktisches Nachschlagebuch in Sachen der christl.
Kunst ist das an Illustrationen sehr reiche Werk von
Carl Atz ,,Die christliche Kunst in Wort und Bild"
(Würzburg, Wörl 1884).
Und mm Glück auf zu Ihrer ersten Wanderung!
Mögen die Pfade anfangs beschwerlich und hart sein,
sie führen hinauf zu den Höhen, droben lohnt sich
die Mühe in der sonnenwarmen, klaren Höhenluft, in
dem weiten Umblick. Aber haben Sie Acht, dass Sie
nicht auf Irrwege sich verlocken lassen, die vielleicht
zunächst in lachende Auen zu fuhren verheissen, aber
in Abgründen enden. Nehmen Sie zum sichern Kom-
pass das Wort St. Augustins: „Wo Ordnung
herrscht, da ist Schönheit und jede Ord-
nung kommt von Gott."
Ihr ergebener
Prof. K e p p 1 e r.