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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Mersmann, Hans: Beethoven: Versuch einer Synthese
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0242

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Beethoven stand am Ende seines dritten Jahrzehnts. Das Gespenst der Ertaubung
hatte ihn lähmend berührt. Der leidrte Rhythmus der ersten Wiener Jahre war
verschwunden. Seine Seele hatte sich ihm entschleiert. Er kannte den Schmerz. Und
er gestaltete ihn. Begreift mit einem Male den Sinn des Dämons, der sidr in den
ersten Cellosonaten schon podrend gemeldet hatte. Zwingt ihn in der ersten c-moll-
Sonate von 1798 in geballten Klang, aus dem gespannter Rhythmus aufzuckend
bricht. Das waren neue Töne: gereckte melodische Gebärden, dröhnende Schläge,
dumpfe Pausen, weiche Gegenstimmen, welche überfönt werden. Die Linie entfaltet
sich. Die langsamen Sähe der D-dur-Sonate von Opus 10 und des ersten Streich-
quartetts von Opus 18 werden zu leidenschaftlichster Klage. Taumelnde Bewegung,
geschleuderte Sequenzen beherrschen die Schlußsätze. Und der Ausdruck wird zur
Gestalt. Die zweite c-moll-Sonate, die pathetische, ruft nicht mehr, sondern formt.
Türmt die aus der der ersten gemeinsamen Quelle gewonnenen Motive aufeinander,
schichtet die Quadern zu weif ausladenden großen Bögen. Nicht mehr um den
Geist handelt es sich, sondern um die Formung. Auf dieser Stufe steht Beethoven
zum ersten Male fast allein. Vereinzelte Späfwerke Mozarts (Klaviersonafe c-moll
und die lebten Sinfonien) und Haydns (Klaviersonafen in cis-moll und Es-dur,
einzelne Quartett- und Sinfoniesäße) berühren ihn. Aber was jenen Ziel ist, wird
ihm Stufe.
Die Entwicklung ersfredct sich über einen langen Zeitraum. Der Spannungsgrad
der ersten großen Dramen kann nicht zur Permanenz werden. Elementare Werke
treten als Entspannung dagegen, Musikantentum spricht: Es entstehen Violin-
sonafen, die beiden Romanzen, das Septett, Bagatellen, mehrere Klaviersonafen.
Noch gibt es keine Verschmelzung zwischen den Forderungen des Menschen und
denen des Kunstwerks. Es ist ein Entweder — Oder, und dem Ringenden fehlt
die leßfe Erfüllung. Hart kämpft er um sie in der d-moll-Sonafe Opus 31. Weif
über die Spannung der Pathetischen Sonate hinausgewachsen ist der Konflikt hier
mit größter Sdiärfe gemeißelt, die tektonische Kraft enorm gesteigert, alles Un-
wesentliche abgestreift. Die Form tritt zurück: es geht um das Sein. Die Spannungen
der Sonate genügen nicht. Eine zweite, von ihm als „große“ empfundene Sinfonie
faßt die Entwicklungswege eines Jahrzehnts zusammen. Der dröhnende d-moll-
Sfurz der Massen in der Einleitung verheißt den Kampf; noch ist er es nicht. Erst
in der Driften Sinfonie, der Eroica, findet der gesteigerte Mensch, der Held Er-
füllung und Vernichtung. Schon ihr Thema (welches wir immer viel zu selbst-
verständlich hinnehmen) geht in seiner Nichtachtung aller organischen Forderungen
bis an Grenzen: der stark tektonische Vordersaß, die ganz ungestalteten flackernden
Synkopen und der ein zweites Thema in sich enthaltende Nachsaß machen den
Gedanken zu einem der unlogischsten, welche je gedacht wurden. Der Konflikt
steigert sich zu gigantischen Maßen. In großen Kurven sucht die Durchführung
vergeblich, ihn auszufragen. Aus den Synkopen werden schwere Schläge des ganzen

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