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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Hagen, Oscar: Zur Frage der Italienreise des Matthias Grünewald
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Zur Frage der Italienreise

des Matthias Qrünewald

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denn auch Schmids weiteres Urteil »korrekter sind auch
sonst die sichtbareren Teile der Komposition« (a. a. O.
S. 68). »Korrekt«, »akademisch«, man wird zugeben,
daß das Worte sind, die im allgemeinen Grünewaldi-
schen Arbeiten gegenüber nicht am Platze sind. Sind
sie es aber wirklich einmal, so müssen diese Seltsam-
keiten bedenklich machen. Nicht etwa in dem Sinne,
als ob Zweifel an der Autorschaft des Aschaffenburger
Meisters — die ja gegen jeden Einwand schon durch
die von Braune angeführten Stilkriterien völlig ge-
sichert ist — dadurch wach werden könnten, wohl
aber gegen den Grad der Originalität des Grünewaldi-
schen Kunstcharakters, der sich in der Münchner Ver-
spottung eben ganz anders manifestiert als in den
folgenden Werken, wie vor allem etwa in den Frank-
furter Flügelbildern.

Und da erklärt sich denn vieles, wenn nicht gar
alles bei einem Vergleich des Münchner Bildes mit
dem abgebildeten Ausschnitt aus der heute dem Pesello
zugeschriebenen Predella mit Szenen aus der Ge-
schichte des hl. Nikolaus von Bari, die sich in der
Casa Buonarotti befindet.

Die Verwandtschaft zwischen beiden Bildern ist
zu groß, als daß sie auf bloßem Zufall beruhen könnte.
Es kommt gewiß vor, daß zwei Maler gleichzeitig oder
nacheinander unabhängig den gleichen formalen Ge-
danken aussprechen; dasselbe tritt manchmal ein bei
verwandten ikonographischen Voraussetzungen, die
hüben und drüben die gleiche Endlösung schon in
sich tragen. Wo es sich aber, wie hier, darum handelt,
daß der spätere Maler bei der Darstellung einer Passions-
szene, für die ein ikonographisches Schema überliefert
war, dieses aufgibt und eine Form wählt, die bei einem
früheren Meister den Teil einer Legendendarstellung
ausmacht und beide im Einzelnen wie im Ganzen sich
im denkbar stärkstem Grade ähnlich sind, da muß es
wohl verstattet sein, den verwandtschaftlichen Bezieh-
ungen näher nachzudenken. Um so mehr, als auch der
mehrfach genannte Grünewaldbiograph für das »aus-
geklügelte Historienbild« nach Vorbildern sucht, die
er allerdings im augsburgischen Kreise vermutet.

Der Vergleich des Personenbestandes in beiden
Bildern ergibt zunächst, daß die beiden Schergen-
gestalten rechts im Vordergrunde bis auf ganz geringe
Abweichungen völlig identisch im Stand- und Be-
wegungsmotiv sind. (Vgl. sogar die entlastete linke
Ferse.) Die gleiche Körperdrehung, die gleiche diagonale
Haltung, das gleiche verlorene Profil. Die Abweichung
des linken Armes, der bei Pesello mit ans Schwert
greift, während er bei Grünewald das Tau faßt, ergibt
sich so sehr aus der Verschiedenheit des gewählten
Motivs, daß sie kaum als Gegengrund angeführt werden
kann. Dann ist da beide Male der Zuschlagende links,
der hier wie dort, als Gegengewicht gegen den Schergen,
derselben Bildaufgabe dient. Hier ist es vor allem das
auffällige Hochnehmen des schlagenden Armes, so,
daß Unterarm und Brust unter eine gemeinsame gerade
Linie gebracht werden, wodurch der Schlag erst seine
besondere Wucht erhält. Ich kann mich keines ana-
logen Falles, weder in der frühen italienischen, noch
in der deutschen Kunst entsinnen. Als drittes wäre

auf den Büttel zu verweisen, der bei Grünewald rechts
über dem Schergen steht und die Hand Einhalt ge-
bietend ausstreckt. (Schmid will in der Geste aller-
dings das Gegenteil: den Befehl zum Schlagen sehen,
doch scheint es mir nicht ohne weiteres möglich zu
sein, sie eindeutig in diesem Sinne zu interpretieren.)
Auch auf dem Florentiner Bilde kommt eine ähnliche
Figur mit gleicherweise ausgestreckter Hand vor; es
ist dort der hl. Nikolaus, der das drohende Verhäng-
nis von den Soldaten abwendet. Rein formal be-
trachtet ist die Verwandtschaft hier freilich nicht mehr
so schlagend wie in den erstgenannten Figuren. Aber
es handelt sich ja bei Grünewald nicht um eine wört-
liche Kopie aller Teile; der inhaltliche Bildgedanke
entspricht sich dennoch durchaus: Der Einhaltgebietende
steht an der gleichen Stelle und im gleichen Sinne.
Ähnlich ist es mit Christus selbst; bei Pesello steht
das Opfer, bei Grünewald sitzt es. Aber hier wie
dort hat es die Augen verbunden, und das wieder er-
klärt in gewisser Weise die Abhängigkeit. Das rührende
Motiv der verhüllten Augen bei dem Soldaten mag
die Anregung gegeben haben, die Komposition zu
einer Verspottung zu verwenden.

Daß die Trachten nicht übereinstimmen, wird
niemand in der wirklichkeitsfrohen Zeit, der Grüne-
walds Bild seine Entstehung verdankt, wundern dürfen.
Er wählt natürlich die Zeittracht (die ja auch Gelegen-
heit gab, dem Bilde seine chronologische Stelle im
Werke des Meisters anzuweisen).

Das Verhältnis der beiden Bilder ist also im ganzen
betrachtet so, daß man nicht wohl zweifeln kann,
Grünewald habe jenes Bild in Florenz gesehen. Wie-
weit die Übereinstimmung im einzelnen geht, mag
durch eine letzte Beobachtung erhärtet werden. Bei
Pesello steht der Scherge vor einem beetartigen Streifen
Grün, das der Künstler dort in der Absicht angebracht
hat, den Raum nach der Tiefe hin zu erschließen und
gleichzeitig das räumliche Verhältnis des Schergen auf-
zuklären. Der Kolorist Grünewald bringt an genau
derselben Stelle und genau in derselben Aufgabe in
völlig identischer Raumkurve einen dunklen Schlag-
schatten auf dem Boden an. Auch die Lichtführung
von links oben und die Art, die Komposition mit
herangeschobenen Köpfen nach hinten abzuschließen,
ist die gleiche.

Der Fall ist in mehrfacher Weise fesselnd und
historisch bedeutsam. Zunächst und vor allem natür-
lich, weil wir aus ihm eindeutig entnehmen können,
daß Grünewald vor dem Jahre 1503 in Florenz war.
Dürfen wir diese Folgerung denn auch gewiß ziehen?
Ich denke, soweit unsere historische Kenntnis reicht,
müssen wir's. Die Predella des Pesello befand sich
damals noch in Sa. Croce in der Capeila Cavalcanti
unterhalb der Verkündigung des Donatello (Vasari-
Sansoni III, p. 37), also an einer Stelle, wo sie jeder
kunstbeflissene Italienfahrer sehen mußte. Sie ist von
so hoher Qualität, daß man einst sogar glaubte, sie
in das Werk des Piero della Francesca einreihen zu
können, was sich dann aber bald als unhaltbar erwies.
Ein Reproduktionsstich danach, oder eine Kopie, ist
uns nicht bekannt geworden. Nun bliebe natürlich
 
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