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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Kurth, W.: Das graphische Werk von Lovis Corinth
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0187

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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXVIII. Jahrgang

1916/1917

Nr 33. 18. Mai 1917

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
Man abonniert bei jeder Buchhandlung, beim Verlage oder bei der Post. Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Hospitalstr. IIa.
Abonnenten der Zeitschrift für bildende Kunst erhalten Kunstchronik und Kunstmarkt kostenfrei. Anzeigen 30 Pf. die Petitzeile; Vorzugsplätze teurer.

DAS GRAPHISCHE WERK VON LOVIS COR1NTH

Immer mehr beginnt die Vorstellung von einzelnen
Persönlichkeiten der modernen Kunst — und nicht
zuletzt auch von ihrer ganzen Geschichte — durch
den ansehnlichen Raum, den das graphische Werk
in der Lebensarbeit beansprucht, sich zu weiten.
Und man muß dieses Moment für die Berliner Schule,
bei deren bedeutenden Vertretern, bis auf den An-
fang des Jahrhunderts zurückgreifend, die Schwarz-
Weißkunst zu dem integrierenden Bestandteil ihrer
Charakteristik gehört, als einen besonders glücklichen
Zug traditioneller Eigenart begrüßen. Unter diesem
Gesichtspunkt gewinnen die Kollektivausstellungen,
die die Berliner Salons von dem graphischen Werk
einheimischer Meister geben, ein höheres Interesse
— ja ein doppeltes Interesse, da man sich nicht nur
begnügt, ein Stück Geschichte zu zeigen, sondern
ein Stück Geschichte zu machen. Man gewöhnt sich
nämlich, in engster Gemeinschaft mit dem graphischen
Werk auch das gezeichnete Werk des Meisters, meist
sogar in chronologischer Folge, aufzublättern.

Die höhere Selbständigkeit, die hierdurch von vorn-
herein jener Gattung zugewiesen wird, ist jedoch
andererseits nicht immer geeignet, die Homogenität
der künstlerischen Ausdrucksmittel eines Meisters zu
bekräftigen, denn oft hat schon ein allzufrühes Auf-
treten eines Zeichnungswerkes - als »auch ein Werk«
nicht nur den Maler, sondern auch den Graphiker
kompromittiert. Wenn nun Corinth im Salon Gurlitt
neben seinem graphischen Werk uns auch sein ge-
zeichnetes zeigt, so bringt uns diese reiche Auswahl
jedoch einen erfreulichen Ausgleich zwischen dem ge-
malten und radierten Werke des Künstlers. Gerade
die Zeichnungen, die uns überdies zum ersten Male
in ihrer Spanne über fast dreißig Jahre eine bestimmtere
Vorstellung von seiner Entwicklung geben, gewähren
auch einen tieferen Einblick in das malerische Tem-
perament dieses Künstlers, das mit dem Ausdruck der
Malerfaust doch zu eng umgrenzt ist, und geben zu-
gleich die verständliche Basis für seine Radierkunst
ab. Die freie Laune, mit der sein freudig erregtes
Malerauge frei bewegte und farbenreiche Sinnlichkeit
aufgriff und jene nicht selten zu einer starken, gro-
tesken Phantasie steigerte, erscheint in seinen Zeich-
nungen abwägender. Der abstrahierende Geist fran-
zösischer akademischer Schulung, der das Stück Natur
in seiner distinguierten Linie denkt, bevor er sie zeichnet,
ist nicht nur den Zeichnungen der achtziger und neun-
ziger Jahre eigen, sondern auch den späteren als
inneres Gerüst verblieben, so summarisch auch die
Binnenzeichnung sich ausbreitete. Das Akademische
ist bei ihm nie Methode geworden, so konnte sich

die Formengebung von den trübenden Gewässern
kanonischer Verallgemeinerung fern halten. Immer
spricht in seinen Aktzeichnungen die lebhafte Gegen-
wart dieses einmaligen individuellen Formengefüges,
das sich selbst bis in die Porträtzüge hinein erhält.
Daher gibt es bei ihm keine Typen, sondern Formen.
Wie sehr es diesem Zeichner Corinth auf die Linie
in der Form ankam, mag auch das Material des Graphit
zeigen, der erst in späterer Zeit von der Kreide, kaum
je aber von der Kohle Gebrauch machte. Die reichen
Farbennuancen seiner Malerpalette und die derbe Art
seiner Pinselführung haben dieses untere Liniengerüst
oft übersehen lassen, und erst seine Graphik hat es
wieder stärker betont und ist somit in ein näheres
Verhältnis zu seinem Zeichnungswerk getreten als zu
seiner Malerei.

Die Einleitung zu dem graphischen Werk, das
Karl Schwarz bei Fritz Gurlitt (1917) herausgegeben
hat, erzählt uns, daß Corinth nach autodidaktischen
Anfängen erst um 1910 seine Graphik in breiteren
Fluß brachte. Die Einfälle ergeben sich für ihn
kurzerhand aus den gelegentlichen Gegenwartsein*
drücken, im Atelier und in seinem Hause. Gegen
diese unbedenklichen, mit zügigen Strichen und ge-
ringen Schattenandeutungen heruntergeschriebenen Im-
provisationen müssen alle Kompositionen, die sich oft
allzueng an die Gemälde anlehnen, ohne einen be-
sonderen neuen graphischen Reiz beizubringen, zurück-
stehen. Der Graphiker nimmt meist den Strich des
Zeichners auf, führt ihn jedoch aus der wägenden
Raison in die launige Kauserie hinüber, mit der die
kalte Nadel auf der Platte spielt. Man spürt deutlich,
wie ihn die frische Sinnlichkeit dieses ungeätzten
Striches in dieselbe, freudig erregte Laune versetzt,
die wir von seiner Aktmalerei her kennen. Eine
kluge Ökonomie verdirbt ihm aber niemals die Aus-
druckseigenart seiner graphischen Mittel, und der Maler
mit seiner reichen Palette tritt dem Graphiker nicht
in den Weg. Und doch weiß er durch wenige Par-
allelschraffuren Schwellung der Form und Weichheit
der Haut in seinen weiblichen Aktdarstellungen zu
geben. Die späteren Arbeiten, die auch die Aktdar-
stellungen durch einige Requisiten historisch oder
mythologisch einkleiden, haben nicht mehr die Frische
des freien Striches. Dem Maler am nächsten stehen
einige Landschaften und Blumenstilleben, die mit einer
reicheren Skala von Schwarz und Weiß selbständig
mit rein graphischen Mitteln Licht und Luft anstreben.
Auch unter den Zeichnungen sind dieselben impres-
sionistischen Eindrücke zu finden, die in sehr schön be-
wegten grauen Flächen die Dinge im Raum modellieren.
Das graphische Temperament ist entgegen seinen Aus-
drucksmitteln, die es näher an die Zeichnung heran-
 
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