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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Tietze, Hans: Die Literatur über die jüngste Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0228

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435

Die Literatur über die jüngste Kunst

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DIE LITERATUR ÜBER DIE JÜNGSTE KUNST1)

Jene Kunsthistoriker, die aus einer unmittelbaren
Empfindung des lebendigen Schaffens der eigenen
Zeit Nahrung und Kraft für ihre beruflich angestrebte
Erkenntnis historisch gewordener Kunst schöpfen, wer-
den keine Schwierigkeit haben, ein klares Verhältnis
zur modernen Kunst zu erlangen; viel schwerer ist
ihnen, der reich und überreich sprudelnden Literatur
über diese Kunst etwas abzugewinnen. Dort findet
man wie in allen Zeiten Starkes und Lahmes, Echtes
und Nachgeahmtes nebeneinander; hier wird in Büchern
und Heften, in Streitschriften pro und contra und in
abgeklärten Essays, die den ungefügen Stoff in die
Perspektive einer ephemeren Ewigkeit sperren, fast
ausnahmslos nicht über den Kern der Dinge, sondern
neben ihm her gesprochen. Der Irrtum, daß man des
Wesens einer lebendigen Kunst auf diese Art begriff-
lich habhaft werden könnte, herrscht hüben und drüben;
die einen beweisen, daß die neue Kunst ein Wider-
sinn, die anderen, daß sie eine logische Notwendig-
keit sei. Beide haben in gleichem Maße recht und
unrecht, beide sprechen nicht von der Kunst, sondern
von ihrem begrifflichen Substrat, das allein logisierender
Behandlung zugänglich ist. Bei der alten Kunst macht
es sich weniger geltend, daß die zugreifenden Ge-
danken nur einen Schatten fassen, sie schöpft aus
ihrem Vergangensein, aus ihrer Verknüpfung mit be-
stimmten historischen Bedingungen ein Scheinleben,
einen Ersatz von Lebendigkeit an Stelle jener unfaß-
baren Beseeltheit, die nur einer Gegenwartskunst eignet.
Mit allen anderen Mächten des Lebens ist es wohl
auch nicht anders; nur der Gesamtheit aller seelischen
Kräfte geben sie sich gefangen; aber sobald wir sie
in Begriffe binden und in Worte schlagen wollen,
greifen wir nur eine leere Hülle, aus dem jene ent-
flohen sind. Sobald wir über lebende Kunst, die uns
herrisch und unerbittlich als Ganze fordert, denken
und sprechen, ist es nicht mehr die Kunst, sondern ihr
Reflex im Spiegel des Verstandes. Der Reflex läßt sich
beweisen oder widerlegen; die Kunst ist ganz anderswo.

1) Eine vollständige Übersicht über diese Literatur ist
nicht leicht zu gewinnen; ich habe bei dieser Charakteri-
sierung hauptsächlich an folgende Schriften gedacht:
Max Picard, Das Ende des Impressionismus, München
1916; Paul Fechter, Der Expressionismus, München 1914;
Herrn. Bahr, Expressionismus, München 1916; Julius Meier-
Oraefe, Wohin treiben wir? Berlin 1913; Theodor Däubler,
Der neue Standpunkt, Dresden-Hellerau 1916; Wilhelm
Hausenstein, Die bildende Kunst der Gegenwart, Stuttgart
und Berlin 1914; Andre Salmon, La jeune Peinture Francaise,
Paris 1912; Max Raphael, Von Monet zu Picasso, München
1913; Ludwig Coellen, Die neue Malerei, München 1912;
Albert Lamm, Ultra-Malerei, 99. Flugschrift des Dürer-
bundes; Fritz Burger, Cezanne und Hodler, München 1913;
Alfred Werner, Impressionismus und Expressionismus,
Leipzig-Frankfurt 1917; Herwarth Waiden, Einblick in Kunst,
Berlin 1917. Weiters viele Aufsätze in den spezifisch mo-
dernen Kunstzeitschriften und Revuen. Dagegen sind die
zahlreichen Schriften, in denen moderne Künstler selbst
ihren neuen Standpunkt vertreten, nicht herangezogen, weil
ihr literarischer Charakter und ihr Wert naturgemäß ganz
anderer Art sind.

Aus der klar erkannten oder doch instinktiv emp-
fundenen Vergeblichkeit dieses Beginnens erklärt sich
ein Teil der maßlosen Heftigkeit dieser Dialektik; es
ist ein Babelturm, bei dem alle in taube Ohren schreien
und wütend gestikulieren. Weil ihnen trotz aller spitz-
findiger Verständigkeit, die sie vorgeben, Kunst eine
Sache ihrer ganzen Geistigkeit ist, etwas, wo man mit
seiner ganzen Existenz bejaht oder verneint, sind sie
bei Widerspruch und Unverständnis fassungslos und
wilderregt; sie sind ehrlicher und innerlich folgerich-
tiger als der zynische Assimilant, der sich aus dem
Räsonnement, daß sich bisher jede von der Jugend ge-
tragene Richtung als lebensfähig und berechtigt er-
wiesen hat, seinen Standpunkt zurechtmacht. Nichts
ist verdrießlicher als dieses scheinbar verständige und
doch so hohle, wohlwollend tuende, im Grunde völlig
verständnislose onkelhafte Gebaren; wir lieben unsere
Zeit, wir wollen kein Mitleid und kein Wohlwollen.
Wie menschlich erfrischend wirken daneben solche
Unbedingte, die alle moderne Kunst für Trottelei oder
bewußten Schwindel erklären oder die kurz und bündig
mitteilen, daß die Kunst durch viele Jahrhunderte in
völligem Verfall war und erst jetzt — vielleicht seit
fünf, vielleicht schon seit sieben Jahren — zur glor-
reichen Selbstbesinnung gelangt sei.

So erfreulich solche ehrliche Temperamentsaus-
brüche sind, fragte sich doch, ob wir über das Wesen
einer Kunstrichtung Grundlegendes erfahren, wenn
uns versichert wird, die sie hervorbrachten, seien Idioten;
oder umgekehrt, wer sie nicht als Gipfel aller bis-
herigen Leistungen anerkenne, sei hoffnungslos ver-
blödet. Zweifellos sind solche Werturteile, die manch-
mal auf jede Beschönigung oder auch Begründung
verzichten, manchmal — was an der Sache nichts
ändert — in das bequeme Maskenkleid der Kultur-
psychologie oder das priesterliche Gewand des ästhe-
tischen Geschmäcklertums vermummt sind, für die Er-
kenntnis der Kunst völlig wertlos; aber die Arbeit ist
dennoch nicht unnütz. Die verblendeten Schatzgräber,
die den Acker der Begriffe und Worte nach dem
Kleinod der Kunst durchwühlen, kehren mit leeren
Händen heim, aber im Boden, den sie gelockert haben,
wächst die Kunst leichter und gedeiht rascher. Denn
freilich läßt sich die moderne Kunst nicht beweisen;
aber die Scheinbeweise helfen die Vorurteile, die den
Hauptwiderstand leisten, brechen, der polternde En-
thusiasmus erzeugt Suggestivkräfte, die die Aufnahme
der Kunst erleichtern. Die Bedeutung einer lebenden
Kunst ist nicht eine Sache objektiven Wertes, sondern
eine Frage der Macht; Kunst will herrschen, will sich
die Menschen unbedingt unterwerfen und scheut kein
Mittel, diese Macht an sich zu reißen. Ihr dienen
skandalöse Ausstellungen und lärmende Versteige-
rungen, elende Abbildungen, die das Werk zur Kari-
katur entstellen, talentlose Nachahmungen, die das
Wertvolle des Vorbildes breiten Schichten mundge-
recht machen; ihr dient der Angriff kaum weniger
als die Verteidigung und ihr dient auch — ganz
anders als sie meint — diese Literatur, die eine wirk-
liche Erkenntnis der Kunst kaum fördert. In einer
Regenwurmarbeit, die den harten Boden lockert und
 
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