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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Matthys Maris †
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0258

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Matthys Maris f

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MATTHYS MARIS f

Mit Matthys Maris (1839—1917), der am 22. August in
London verschieden ist, ist nun auch der letzte der Ge-
brüder Maris und zugleich der letzte Paladin der sogenannten
Haager Schule dahingegangen. Er wird gemeiniglich zu
dieser Schule gerechnet, obwohl die Bande, die ihn mit
dem Haag und überhaupt mit Holland verbinden, sehr lose
gewesen sind. Gewiß, er ist im Haag geboren, hat dort
die Akademie besucht und hat in seiner ersten Zeit hol-
ländische Landschaft und holländische Menschen auf hol-
ländische Art gemalt; aber seit 1869, also von seinem
dreißigsten Lebensjahr ab hat er dauernd von seinem
Vaterland getrennt gelebt, offenbar weil er sich da nicht
heimisch fühlte, wie zwei andere berühmte Landsleute,
Vincent van Gogh und — Alma Tadema. Er mutet unter
seinen holländischen Zeitgenossen denn auch wie ein Ge-
wächs von fremdem Boden an, wie eine seltene und kost-
bare Treibhauspflanze, die in der gesunden und etwas
nüchternen holländischen Atmosphäre nichtgedeihen konnte.
Vielleicht, daß sich in ihm die fremde Abstammung geltend
machte, von der man bei seinen Brüdern allerdings nichts
verspürt: die Familie war aus Böhmen hierher verschlagen,
sein Großvater, aus Prag gebürtig, war als Soldat unter
Napoleon überall in der Welt herumgekommen und schließ-
lich im Haag hängen geblieben. Vielleicht aber ist dies
Herausgewachsensein über den beschränkt nationalen Stoff-
und Dunstkreis gerade dem Genie überhaupt eigentümlich,
das dadurch in einer der ganzen Menschheit verständlichen
Sprache redet, wie das ein Beethoven ebenso tut wie ein
Rembrandt oder ein Shakespeare. Fest steht, daß Matthys
Maris mehr als alle seine Landsleute fremde Anregungen
in sich aufgenommen und verarbeitet hat, und zwar zu
etwas ganz Selbständigem und Persönlichem. Was auf
ihn wie auf keinen zweiten Holländer gewirkt und seine
Kunst in eine so abweichende Bahn gedrängt hat, ist
zweifellos die Romantik und zwar in ihrer deutschen
Form gewesen, die Schöpfungen eines Schwind, eines
Kaulbach und eines Rethel und anderer, die er auf
einer Ausstellung in Köln 1860 Gelegenheit hatte zu stu-
dieren. Aber was diesen meistens abging, die Tradition
im Handwerklichen, die Beherrschung des Faches und das
feinere Farbengefühl, das brachte er gerade von zu Hause
mit. Dazu kam dann bei ihm noch seine größere und
umfassendere Menschlichkeit, die ihn Tiefen sehen und
Schleier lüften ließ, von denen sich die im Grunde doch
harmlosen und oberflächlichen, hausbackenen und klein-
bürgerlichen deutschen Malerromantiker nichts träumen
ließen. Die Romantik geht bei Maris, im Gegensatz zu
den deutschen Meistern, mit einem ganz erstaunlichen Rea-
lismus, einer besonders scharfen Beobachtungsgabe Hand
in Hand. Echt romantisch ist die Grundstimmung, die aus
Sehnsucht und Wehmut in wunderbarer Weise gemischt ist;
man fühlt stets ein Unbefriedigtsein, eine leise Trauer heraus,
und das entsprang wohl aus einer übergroßen Empfind-
lichkeit und Reizbarkeit des Künstlers, die ihn schließlich
auch dazu trieben, sich von der Welt zurückzuziehen und
die letzten vierzig Jahre in der Einsamkeit der Großstadt
zu verbringen. Die Brüder von Matthys gingen als ty-
pische Holländer ganz auf in der Wirklichkeit, die sie um-
gab, und ihre Kunst ist ein nie enden wollender Hymnus
auf die stille Schönheit ihres Vaterlandes. Matthys konnte
diese schlichte, alltägliche Wirklichkeit auch darstellen, eben-
sogut wie seine Brüder. Davon legen die frühen Bildnisse,
die man von ihm kennt, das geradezu Klassische eines
Mannes im Besitze des Herrn C. T. L. de Wild im Haag,
das er mit 18 Jahren malte, und die verschiedenen Land-
schaften mit Staffage (oder Figurenbilder mit landschaft-

lichem Hintergrund), wie die kleinen Bildchen mit im Vorder-
grund hantierenden Personen und den Häuserkulissen im
Hintergrund, die sich im Städtischen und im Reichsmuseum
in Amsterdam befinden, ein beredtes Zeugnis ab, dann
der Hof mit der waschenden Frau im Vordergrund, aus
der Sammlung Neervoort van de Poll, durch eine feine
Radierung von Zücken festgehalten, und endlich in ganz
besonderem Maße die Souvenir d'Amsterdam genannte
Stadtansicht im Rijksmuseum. Hier ist eine typisch hollän-
dische Wirklichkeit dargestellt, wie wir sie alle kennen,
und wie sie auch ein Jakob Maris oft zum Vorwurf ge-
nommen; dem er in diesen Werken auch sehr nahe steht.
Und doch ist bei näherer Betrachtung der Unterschied
groß; zuerst in farblicher Hinsicht, denn die Werke von
Matthys sind toniger, bleicher könnte man sagen ; und dann,
und das scheint uns das Wesentliche, sie sind von einer
nicht definierbaren, verträumten Stimmung erfüllt. So er-
scheinen einem die Dinge nur in den alles verklärenden
Erinnerungen; deshalb liegt auch so eine eigentümliche
Ruhe in diesen Werken. Nicht dieses oder jenes Einzelne,
nicht diese altersgrauen Giebel, nicht jene altmodische Zug-
brücke hat der Maler darstellen wollen, sondern das Ge-
fühl der Beruhigung, das ihn bei der Erinnerung an jene
zeitlich und räumlich ferne Örtlichkeit beschlich. Der Sou-
venir d'Amsterdam ist 1871 in Paris entstanden. Bei Jakob
Maris fühlt man stets die unmittelbare Gegenwart, das
Momentane und Flüchtige, einer Naturstimmung, eines
Natureindrucks, bei Matthys ist alles zeitloser, jenseits von
Zeit und Raum, sub specie aeternitatis gesehen; man be-
findet sich hier stets in einem gewissen Abstand von den
Dingen, ein dünner Flor trennt sie von uns, alles Laute
und Harte, Heftige und Schrille mildernd und dämpfend.

Die künstlerische Entwicklung von Matthys ist sehr
schnell gegangen; wenn man von den paar schülerhaften
Rotterdamer Ansichten absieht, die er für Lithographien
der holländischen »Kunstchronyk« 1855 gezeichnet hat,
steht er als Bildner der Wirklichkeit gleich als fertiger Maler
da. Der meisterhafte Akt eines sitzenden Negerjungen,
der im Oktober vorigen Jahres bei Fred. Muller in Amster-
dam versteigert wurde, ist 1856 datiert; das schon erwähnte
Brustbild eines bärtigen Mannes aus dem Besitze des
Herrn de Wild im Haag entstand 1857, und das faszi-
nierende Selbstbildnis (nur Kopf) ist vom Jahre 1860. Auch
verschiedene Landschaften haben wir vom Maler aus dieser
Zeit, dann Stilleben, wovon das Mesdag-Museum im Haag
in dem Widderkopf solch eine treffliche Probe besitzt.
Unselbständig und schwach ist Maris dagegen in seiner
ersten größeren freien Komposition, einem echt roman-
tischen Vorwurf, der Rückkehr des verlorenen Sohnes an
das Sterbebett der Mutter; von diesem aus dem Jahre 1857
stammenden Bilde liegt auch eine interessante, einigermaßen
abweichende, nur in Umrissen ausgeführte Vorstudie vor,
die in auffallender Weise den Einfluß von Rethel zeigt.
Aber abgesehen von gut erdachten und getroffenen Einzel-
heiten, so dem beseligten Ausdruck der toten Mutter und
dem unglücklichen, entsetzten des zu spät gekommenen
Sohnes, mutet das Werk doch als Ganzes als das Erzeug-
nis äußerlicher Theaterromantik und kinomäßiger Melo-
dramatik an.

Die ihm gemäße Form der Romantik sollte Maris erst
später finden. Eine Reise nach Deutschland, dem Schwarz-
wald und der Schweiz führte seinen romantischen Nei-
gungen neue Nahrung zu und lieferte ihm neue Motive
und vor allem Staffage und Kulissen. Manche altertümlichen
Winkel, zinnengeschmückte Schlösser, gotische Kirchen,
die er auf der Reise gesehen hatte, kehren von da ab in
den verschiedensten Variationen in seinen Werken wieder;
mit Vorliebe geben sie die in einem zarten Dunst ver-
 
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