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Dresdner Kunstausstellung
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zum Philosophieren fand.« Auf diese Schaffensfreude
gibt die Ausstellung einzelne Ausblicke: Wir erinnern
uns, daß er 1878 in der großen Berliner Ausstellung
mit den zehn Federzeichnungen »Phantasien über einen
gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor,
gewidmet« herauskam, daß er etwa zu derselben Zeit
auch die acht Zeichnungen zum Thema Christus
ausstellte, auch den von Räubern Überfallenen Spazier-
gänger, daß die damalige Kritik der Zeitschrift Die
Gegenwart schrieb: »Von der Ausstellung 1878 wird
man in Zukunft sagen: Hier stellte Max Klinger zum
ersten Male aus«. Auch Ludwjg Pietsch schrieb voll
Bewunderung über Klingers erste Werke; die National-
galerie kaufte die Zeichnungen zum Thema Christus.
In der Dresdner Ausstellung sehen wir erneut diese
zehn Federzeichnungen zum Handschuh (Bes. F. Schaper,
Berlin), eine Kneipzeitung der Gussow-Klasse, eine
Einladungskarte zum Akademieball, den Dekorations-
entwurf für eine Saalwand, Entwürfe zu dem berühmten
Blatte Die Chaussee und zum Richterspruch, ein Be-
weis, daß ihn die Dramen und das Radierwerk VII
schon in Berlin beschäftigten, dann eine Feder- und
Tuschzeichnung zum Thema Christus, zwei anziehende
Blätter einer leider nicht vollendeten Folge Vom Pfeile
getroffen (Besitzer G. Kirstein), auch ein Aquarell Am
Elsterkanal (Bes. G. Hirzel, Leipzig) u. a.
Wir erinnern uns weiter, daß Klinger nach jenen
Anfangserfolgen auf zwei Jahre aus Berlin verschwand,
daß er 1879 und 1880 ganz zurückgezogen erst in
Brüssel, dann in München lebte, daß er eine lang-
wierige, erschöpfende Krankheit durchmachte, daß
1880 in Brüssel die Radierungen zu den Ovidischen
Opfern erschienen, daß er in München lebte »wie
in sein Zimmer eingemauert, ohne mit einem einzigen
Menschen zu verkehren, ohne im Verlauf von fünf
Monaten nur ein einziges Mal seinen Fuß in die Pina-
kothek zu setzen, die er nie gesehen hatte, ausschließ-
lich der Ausarbeitung seines großen Werkes Amor
und Psyche nach Apulejius hingegeben«. Auch aus
dieser Zeit weist die Dresdner Ausstellung bemerkens-
werte Zeugnisse von Klingers unablässigem Schaffen
auf. Aus Brüssel sehen wir Entwürfe zu den Ovi-
dischen Opfern, Anrufung, Narziß und Echo (Besitzer
G. Hirzel), zu den Intermezzi: Bergsturz (G. Kirstein),
Amor, Tod und Jenseits (Frau Marie Nachod), zu Ein
Leben: Träume (G. Hirzel); aus Leipzig und München
Entwürfe zu Amor und Psyche: Hochzeilszug, zu
einer illustrierten, leider nicht zustande gekommenen
Ausgabe des Faust II. Teil (Bes. Kirstein und Hirzel),
schließlich auch noch das humoristische Ölbild Ge-
sandtschaft von 1880 (Bes. Frl. E. Königs, Berlin),
das auch noch in einer zweiten Fassung von 1882
(Bes. W. von Seidlitz) vorhanden ist.
Wir erinnern uns endlich, daß Klinger von München
wieder nach Berlin ging und dann für eine Reihe
von Jahren seinen Aufenthalt in Paris nahm, um dort
die französische Malweise, die er — mit Recht für
damals — allein als mustergültig anerkannte, kennen
zu lernen. Aus dieser Berliner Zeit sehen wir u. a.
den ersten flüchtigen Entwurf zu dem berühmten
Blatte An die Schönheit (Bes. Max Lehrs) und eine
Studie zu den Dramen (Bes. G. Hirzel), aus der Pariser
Zeit aber vor allem Studien zu den Folgen Vom Tode
und zu Eine Liebe: zu Blatt 1 drei, zu Blatt 4 vier
Entwürfe (Bes. G. Kirstein), die da zeigen, daß Klinger
nicht selten die erste Fassung zu einem Bilde völlig
verwarf und durch eine zweite ersetzte. Ein voll-
ständig und reich durchgeführtes Blatt gibt eine an-
mutige Illustration zu Goethes Gedicht Lillis Park.
Die Entwürfe zu zwei Wandbildern in der Villa Albers
erinnern daran, daß Klinger schon damals einmal sich
als Raumschmücker und Monumentalmaler zu betätigen
Gelegenheit fand. Mit zwei stark gegensätzlichen
Federzeichnungen Frau mit Tragkorb und Hund: Vi-
sion Salome und Der Kürassier (beide im Besitz
von G. Hirzel) schließt die Reihe dieser Jugendwerke
Klingers, die uns das Werden so vieler hervorragen-
der Werke des Künstlers, sein gewissenhaftes Natur-
studium, seine scharfe Beobachtung der Natur, sowie
seine reiche Phantastik und sein gewaltiges, nie rasten-
des Verarbeiten von äußeren und inneren Eindrücken
augenfällig und eindringlich veranschaulichen. An-
gesichts dieses großartigen umfassenden Schaffens wirkt
es nur unfreiwillig komisch, wenn Verteidiger der
modernen expressionistischen Kunst Klinger zu ver-
kleinern suchen, indem sie sagen, er habe erst gedacht
und dann geschaffen. Die geistvertiefte Kunst Max
Klingers, deren Anfänge wir in der Dresdner Aus-
stellung sehen, gehört zu den stolzesten Bestandteilen
unseres künstlerischen Besitzes, sie ist eine echt deut-
sche Ausdruckskunst. Mit Recht hob schon in den
1880er Jahren ein dänischer Kritiker hervor, daß in
Klinger, obwohl es (damals!) zu seinem Glaubens-
bekenntnis gehörte, kein Nationalgefühl zu haben,
etwas Urdeutsches stecke, etwas von der metaphysischen
Phantastik Jean Pauls und E. Th. A. Hoffmanns,
etwas von der Innigkeit und dem tiefen Schön-
heitssinne Franz Schuberts, und dabei habe er doch
sein eigenes, weit mehr modernes Element, neue
Formen für eine neue Innigkeit, neue Ausdrücke für
Sehnsucht, Wollust, Humor, Selbstironie und das
große melancholische Pathos. Jeder Stoff, den er
berührt, verjünge sich durch die persönliche nervöse
Art, mit der er den Stoff anpacke, und diese Form
von Nervosität komme erst in der letzten Hälfte des
19. Jahrhunderts vor. Seine Phantasie bohre sich
gleichsam in den Mittelpunkt, von dem die schwellende
Fülle des Lebens ausgeht, schaffe mit, schaffe um,
bilde neue Organismen, neue Fabeltiere, neue Aus-
drücke für Gefühle, neue oder erneute Sinnbilder für
Glückseligkeit, Entbehren, Schrecken und Vernichtung.
Was der dänische Kritiker damals erkannt und aus-
gesprochen hat, hat sich als wahr und zuverlässig er-
wiesen. Max Klingers Kunst ist echt, echt künstlerisch-
poetisch und echt deutsch. Uns noch einmal gezeigt
zu haben, wie diese Kunst ward, wie dieser Träger
deutsch - künstlerischen Geistes in die Öffentlichkeit
trat, ist ein Verdienst der Veranstalter dieser Aus-
stellung, das ihnen nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. PAUL SCHUMANN.
(Schluß folgt)
Dresdner Kunstausstellung
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zum Philosophieren fand.« Auf diese Schaffensfreude
gibt die Ausstellung einzelne Ausblicke: Wir erinnern
uns, daß er 1878 in der großen Berliner Ausstellung
mit den zehn Federzeichnungen »Phantasien über einen
gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor,
gewidmet« herauskam, daß er etwa zu derselben Zeit
auch die acht Zeichnungen zum Thema Christus
ausstellte, auch den von Räubern Überfallenen Spazier-
gänger, daß die damalige Kritik der Zeitschrift Die
Gegenwart schrieb: »Von der Ausstellung 1878 wird
man in Zukunft sagen: Hier stellte Max Klinger zum
ersten Male aus«. Auch Ludwjg Pietsch schrieb voll
Bewunderung über Klingers erste Werke; die National-
galerie kaufte die Zeichnungen zum Thema Christus.
In der Dresdner Ausstellung sehen wir erneut diese
zehn Federzeichnungen zum Handschuh (Bes. F. Schaper,
Berlin), eine Kneipzeitung der Gussow-Klasse, eine
Einladungskarte zum Akademieball, den Dekorations-
entwurf für eine Saalwand, Entwürfe zu dem berühmten
Blatte Die Chaussee und zum Richterspruch, ein Be-
weis, daß ihn die Dramen und das Radierwerk VII
schon in Berlin beschäftigten, dann eine Feder- und
Tuschzeichnung zum Thema Christus, zwei anziehende
Blätter einer leider nicht vollendeten Folge Vom Pfeile
getroffen (Besitzer G. Kirstein), auch ein Aquarell Am
Elsterkanal (Bes. G. Hirzel, Leipzig) u. a.
Wir erinnern uns weiter, daß Klinger nach jenen
Anfangserfolgen auf zwei Jahre aus Berlin verschwand,
daß er 1879 und 1880 ganz zurückgezogen erst in
Brüssel, dann in München lebte, daß er eine lang-
wierige, erschöpfende Krankheit durchmachte, daß
1880 in Brüssel die Radierungen zu den Ovidischen
Opfern erschienen, daß er in München lebte »wie
in sein Zimmer eingemauert, ohne mit einem einzigen
Menschen zu verkehren, ohne im Verlauf von fünf
Monaten nur ein einziges Mal seinen Fuß in die Pina-
kothek zu setzen, die er nie gesehen hatte, ausschließ-
lich der Ausarbeitung seines großen Werkes Amor
und Psyche nach Apulejius hingegeben«. Auch aus
dieser Zeit weist die Dresdner Ausstellung bemerkens-
werte Zeugnisse von Klingers unablässigem Schaffen
auf. Aus Brüssel sehen wir Entwürfe zu den Ovi-
dischen Opfern, Anrufung, Narziß und Echo (Besitzer
G. Hirzel), zu den Intermezzi: Bergsturz (G. Kirstein),
Amor, Tod und Jenseits (Frau Marie Nachod), zu Ein
Leben: Träume (G. Hirzel); aus Leipzig und München
Entwürfe zu Amor und Psyche: Hochzeilszug, zu
einer illustrierten, leider nicht zustande gekommenen
Ausgabe des Faust II. Teil (Bes. Kirstein und Hirzel),
schließlich auch noch das humoristische Ölbild Ge-
sandtschaft von 1880 (Bes. Frl. E. Königs, Berlin),
das auch noch in einer zweiten Fassung von 1882
(Bes. W. von Seidlitz) vorhanden ist.
Wir erinnern uns endlich, daß Klinger von München
wieder nach Berlin ging und dann für eine Reihe
von Jahren seinen Aufenthalt in Paris nahm, um dort
die französische Malweise, die er — mit Recht für
damals — allein als mustergültig anerkannte, kennen
zu lernen. Aus dieser Berliner Zeit sehen wir u. a.
den ersten flüchtigen Entwurf zu dem berühmten
Blatte An die Schönheit (Bes. Max Lehrs) und eine
Studie zu den Dramen (Bes. G. Hirzel), aus der Pariser
Zeit aber vor allem Studien zu den Folgen Vom Tode
und zu Eine Liebe: zu Blatt 1 drei, zu Blatt 4 vier
Entwürfe (Bes. G. Kirstein), die da zeigen, daß Klinger
nicht selten die erste Fassung zu einem Bilde völlig
verwarf und durch eine zweite ersetzte. Ein voll-
ständig und reich durchgeführtes Blatt gibt eine an-
mutige Illustration zu Goethes Gedicht Lillis Park.
Die Entwürfe zu zwei Wandbildern in der Villa Albers
erinnern daran, daß Klinger schon damals einmal sich
als Raumschmücker und Monumentalmaler zu betätigen
Gelegenheit fand. Mit zwei stark gegensätzlichen
Federzeichnungen Frau mit Tragkorb und Hund: Vi-
sion Salome und Der Kürassier (beide im Besitz
von G. Hirzel) schließt die Reihe dieser Jugendwerke
Klingers, die uns das Werden so vieler hervorragen-
der Werke des Künstlers, sein gewissenhaftes Natur-
studium, seine scharfe Beobachtung der Natur, sowie
seine reiche Phantastik und sein gewaltiges, nie rasten-
des Verarbeiten von äußeren und inneren Eindrücken
augenfällig und eindringlich veranschaulichen. An-
gesichts dieses großartigen umfassenden Schaffens wirkt
es nur unfreiwillig komisch, wenn Verteidiger der
modernen expressionistischen Kunst Klinger zu ver-
kleinern suchen, indem sie sagen, er habe erst gedacht
und dann geschaffen. Die geistvertiefte Kunst Max
Klingers, deren Anfänge wir in der Dresdner Aus-
stellung sehen, gehört zu den stolzesten Bestandteilen
unseres künstlerischen Besitzes, sie ist eine echt deut-
sche Ausdruckskunst. Mit Recht hob schon in den
1880er Jahren ein dänischer Kritiker hervor, daß in
Klinger, obwohl es (damals!) zu seinem Glaubens-
bekenntnis gehörte, kein Nationalgefühl zu haben,
etwas Urdeutsches stecke, etwas von der metaphysischen
Phantastik Jean Pauls und E. Th. A. Hoffmanns,
etwas von der Innigkeit und dem tiefen Schön-
heitssinne Franz Schuberts, und dabei habe er doch
sein eigenes, weit mehr modernes Element, neue
Formen für eine neue Innigkeit, neue Ausdrücke für
Sehnsucht, Wollust, Humor, Selbstironie und das
große melancholische Pathos. Jeder Stoff, den er
berührt, verjünge sich durch die persönliche nervöse
Art, mit der er den Stoff anpacke, und diese Form
von Nervosität komme erst in der letzten Hälfte des
19. Jahrhunderts vor. Seine Phantasie bohre sich
gleichsam in den Mittelpunkt, von dem die schwellende
Fülle des Lebens ausgeht, schaffe mit, schaffe um,
bilde neue Organismen, neue Fabeltiere, neue Aus-
drücke für Gefühle, neue oder erneute Sinnbilder für
Glückseligkeit, Entbehren, Schrecken und Vernichtung.
Was der dänische Kritiker damals erkannt und aus-
gesprochen hat, hat sich als wahr und zuverlässig er-
wiesen. Max Klingers Kunst ist echt, echt künstlerisch-
poetisch und echt deutsch. Uns noch einmal gezeigt
zu haben, wie diese Kunst ward, wie dieser Träger
deutsch - künstlerischen Geistes in die Öffentlichkeit
trat, ist ein Verdienst der Veranstalter dieser Aus-
stellung, das ihnen nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. PAUL SCHUMANN.
(Schluß folgt)