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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Tietze, Hans: Deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0080

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139

Deutsche Kunst

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das eben gibt so gut wie der französischen und grie-
chischen auch der deutschen Kunst ihre Besonderheit
und Lebendigkeit; nicht woher all diese Motive
stammen, sondern was daraus entsteht, gibt das Maß
für Kraft und Eigenart einer Kunst. Nicht das ent-
scheidet über Wert und Unwert der Mäleschen Hypo-
these, ob die Drei- und Fünfknopffibel sich wirklich
als urgermanisch erweisen lassen oder ob es doch
einen möglicherweise skythischen Fund gibt, der ein
entsprechendes vielleicht von einem Volksgenossen
oder vielleicht von einem anderen Handwerker er-
zeugtes oder auch etwa von diesem jenem oder jenem
diesem nachgeahmtes Stück enthält, sondern maßgebend
ist, daß die ursprünglich zerstreuten Elemente sich zu
einer Kunst verdichten, der trotz stets erneuten Zu-
sammenschlusses mit anderen Kreisen das Kennzeichen
des Deutschen unverkennbai aufgeprägt ist. Die
gleichsam zu Körperhafligkeit gediehenen, jedem Aug
erkennbar mit dem Boden verwachsenen, einmal ent-
standen, nie mehr völlig schwindenden späteren
Charakterzüge bestimmen das Bild deutscher Kunst
und führen auch rückstrahlend dem Dunkel der An-
fänge einiges Licht zu. Was verschlägt es, ob etwa
andere die Muster zuerst zusammenstellten, die Tech-
niken zuerst ersannen; wenn die Kunst der Stämme,
die das Römerreich zerschlugen, nicht in der Erfin-
dung der Einzelheiten, so war sie dennoch in ihrer
Anwendung und Neubelebung so unzweideutig ger-
manisch, daß nie jemand daran gezweifelt hat, daß
diese »Barbarenkunst« die klassische Kultur zertrümmert
hat. Aufs tiefste verabscheut von der alten Dogtnatik,
als eigenartig erkannt von der historischen Kunst-
betrachtung, höchlichst gepriesen von nationalistischen
Strömungen — immer ist diese Kunst als schroffer
Gegensatz derjenigen erkannt worden, die bisher be-
standen hatte; in ihr ist, woher immer ihre Mittel und
Ausdrucksweisen stammen mögen, unzweifelbar die
neue Kraft lebendig, die die alte Welt zerschlägt und
die neue baut.

In dieser neuen Welt, in die die gewaltigen
Trümmer der alten Kultur unvertilgbar eingebettet
lagen, in die der Orient von ferne oder nah hinein-
wirken konnte, in der sich verschiedene Stämme
drängten und durchdrangen, mischten oder verzehrten,
in diesem Geschiebe das Germanische rein loszu-
schälen, bleibt bei aller Vorsicht und Gewissenhaftig-
keit — wie die höchst verschieden lautenden Lösungs-
versuche zeigen — ein höchst heikles Beginnen. Aber
wieder ist dieses Unternehmen für das, was Male
eigentlich erweisen will, nicht vonnöten; im hellen
Lichte der geschichtlichen Tatsachen steht eine deutsche
Kunst, die in romanischer und gotischer Zeit, in
Renaissance, Barock und Klassizismus immer wieder
an Fremdem lernend, von Fremdem nehmend, dennoch
von aller anderen Kunst verschieden und — gut oder
schlecht — nichts als deutsch ist. Ob diese deutsche
Kunst etwas wert ist, wie will Male darüber urteilen,
der selbst erklärt, daß sie ihm — als deutsch — tief
antipathisch ist; sollte er nicht in besonneneren Tagen
des Friedens der Meinung gewesen sein, daß eine
unter solchen Umständen beanspruchte »Objektivität«

eine recht fadenscheinige Selbsttäuschung sei? Über
den Wert der deutschen Kunst entscheidet nicht ein
solcher Ausbruch kunsthistorischer Kriegspsychose,
sondern ein Consensus omnium, wie er vor dem
Krieg bestand und nach dem Krieg trotz aller Ligen
zur Förderung und Erhaltung des Deutschenhasses
wieder bestehen wird; diesem einstimmigen Urteil der
Kulturwelt sind die romanischen und gotischen Dome,
sind die Skulpturen von Naumburg oder Straßburg,
sind Dürer und Grünewald, Stoß und Vischer, sind
die Stadtbilder der deutschen Renaissance und die
Klöster und Schlösser des deutschen Barock uner-
setzbare und einzigartige Besitztümer, Schätze der
Menschheit gewesen.

Nicht nur, daß es Schätze sind, auch daß sie
deutsch sind, darüber waltet kein Zweifel, wenn es
auch nicht leicht ist, ihr deutsches Wesen begrifflich
einzugrenzen. Denn wenn wir aus der unermeßlichen
Fülle widerspruchsvoller Werke aller Zeiten als das
Deutsche Eigenschaften herausheben wie die Betonung
der Empfindung oder wie die Neigung zum Indivi-
duellen, so ist es doch selbstverständlich, daß es sich
hier nur um die Feststellung eines Mehr oder Weniger
solcher Grundtendenzen handeln kann. Es liegt ja im
Wesen aller Kunst, in der Spannung von Empfindung
und Form, von Ausdruck und Eindruck, von Indivi-
duellem und Allgemeingültigem zu wurzeln; keine
Kunst, die nicht an jeder solcher — und ähnlicher —
Gabelungen teil hätte, keine, die an dem ausschließ-
lichen Verfolgen des einen Poles nicht zugrunde gehen
müßte. Nur eine relative Verschiedenheit der nationalen
Kunstideale kann ermittelt werden, wobei ein ähnliches
Vortreten der gleichen Eigenschaften in anderen kultu-
rellen Äußerungen den nationalen Charakter des be-
treffenden Volkes feststellen hilft; innerhalb der Ge-
schichte seiner Kunst wird dieser Charakter bald stärker,
bald schwächer zum Ausdruck kommen. Aber so eng
sind hier Kraft und Gegenkraft verkettet, daß sich nicht
ohne weiteres daraus folgern läßt, jene Perioden, Künst-
ler und Werke, in denen die ausgemittelten Grund-
tendenzen ungebrochener zum Ausdruck kommen,
seien im Sinne der nationalen Entwicklung unbedingt
die höherwertigen. Alle Kunst ist ihrem Wesen nach
Überwindung; das Einzelwerk setzt den Natureindruck
um, auf dem es fußt, das Individuum versucht, sich
über die Schranken eines Naturells zu steigern, der
große Meister überwindet die Kunst seiner Zeit, sollte
nicht auch ein Volk dort zum tiefsten Sinn der in
ihm liegenden Kunstmöglichkeiten dringen, wo es die
Grenzen seiner eingeborenen Begabung am nachdrück-
lichsten aufhebt? Wird es nicht erst da, wo es zum
Grundstock seiner unausrottbaren Eigenschaften auch
noch ihre gegensätzlichen Ergänzungen gesellt, die
Spannkraft seiner Kunst am kraftvollsten ausweiten?

Die Geschichte deutscher Kunst könnte eine solche
Selbstüberwindung zum Zweck der höchsten Steigerung
als notwendig erscheinen lassen; dann erhält jener
fremde, dem deutschen Urwesen kontrastierende Ein-
schlag, der aller deutscher Kunst von der Völker-
wanderung bis zu den jeweils Jüngsten unter den
Modernen innewohnt, einen ganz anderen Sinn, als
 
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