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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Johansen, P.: Bemerkungen zur Frontalität, deren Ursprung und Ende
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0098

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Bemerkungen zur Frontalität, deren Ursprung und Ende

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gestellte Pläne zusammenkomponiert, und bei Um-
fassung der Amazone durch Theseus linken Arm die
Aufgabe noch komplizierter gemacht. Die Amazone
neigt ihren Kopf zur rechten Seite, Theseus dreht den
seinigen scharf nach außen, die Amazone ist parallel mit
dem Blocke entfaltet, Theseus Oberkörper schräg gedreht;
ich vermute, daß der Künstler hier den Block zuerst, vor
der Aufzeichnung, schräg zugesägt hat, ebensowie, daß
er in entsprechender Tiefe eine Vorfläche für die Amazone
bereitet hat, worauf er sie aufzeichnen konnte.

Bei solchem Verfahren scheint es mir wenigstens
in großen Zügen begreiflich, wie sich die grie-
chischen Meister schrittweise vorwärts gewagt haben
in ihrem Ringen nach Abwerfen der Frontalitäts-
Fesseln. Man begann, sich nicht nur im Verhältnis zum
Marmorblock, sondern auch zum freien Räume zu
fühlen. Einfache Wendungen sind fortan nur Spielwerk
— ich denke z. B. an den leicht gewendeten Kopf des
marmornen Reiterbruchstückes im Akropolismuseum,
und den Kopf des Pferdes ebenda (Winter injahrb.d.arch.
Inst. VIII, 1893, p. 135 u. 140). Die lebhafte Bewegung
dieses Pferdes läßt überdies die Abweichung von der
Frontalität als noch größer erscheinen, als sie ist.

Die angeführten Beispiele reichen wohl hin, um zu
zeigen, wie man beim Übergange vom 6. bis zum S.Jahr-
hundert nach voller Beherrschung der Raum- und Be-
wegungsprobleme rang, um der Technik Herr zu werden.

In den Äginagiebeln scheint dieses Ziel ohnehin
erreicht zu sein. Die Technik ist so geschmeidig
geworden, daß Beobachtung und Phantasie ernstlich
auf die Probleme losgehen können. Aber wie die
Technik im einzelnen arbeitete, stellen die Figuren
leider nicht mit voller Deutlichkeit zur Schau; man
muß noch viel erraten.

Die Athena aus dem Westgiebel geht nicht über
die Frontalität bezw. den »Reliefsiii« hinaus; sie ist
hauptsächlich ganz von vorne aufgefaßt und hat noch
den »unscheinbaren Hintergrund« um sich. Auch
einige andere Figuren, z. B. die liegenden aus des
Westgiebels Ecken »schmecken noch nach dem Blocke«.
Aber bei den meisten Figuren, namentlich den im
organischen Formsinn so hoch entwickelten aus dem
Ostgiebel, ist die Marmorbehandlung so vollkommen
und die Abhängigkeit vom Blocke so wenig fühlbar,
daß es als sehr zweifelhaft erscheinen muß, ob es
dem Bildhauer hier möglich gewesen sein kann, ohne
große Tonmodelle und Maßnehmung zu arbeiten.
Wie weit er im einzelnen die Modelle durchgeführt
habe, bleibt allerdings unsicher. Die Augen, die bei
den meisten Figuren noch recht altertümlich sind,
sprechen gegen nähere Ausführung im Tonmodell; sie
liegen noch mehr oder weniger nach den Schläfen zu
zurückgeschwungen, d. h. sie folgen noch dem runden
»Kopfkern«; die Einhöhlung bei der Nase ist nicht
tief genug. Nur bei den als auf dem Rücken liegend
restaurierten im Ostgiebel ist das Verständnis reifer.

Bei diesen Figuren ist die Abhängigkeit vom Blocke
eine so geringe, daß der Bildhauer sich sogar an
keine Bodenfläche gebunden hat, sondern die Figuren
wie frei in der Luft herausgearbeitet und nur »Zapfen«
zur Hineinpassung in die Gemeinplinthe des Giebels

stehen gelassen hat. Ein paarmal hat er nicht ganz
richtig gerechnet, so daß die Zapfen als kurze Stützen
dastehen — oder mit der Absicht, sie von unten un-
sichtbar, erscheinen zu lassen, damit die Figuren die
Erde nicht zu berühren scheinen sollten? Falls nicht
mit Vorsatz ausgeführt, würde dieser Zug der einzige
sein, der gegen Verwendung von Modellen in voller
Größe spräche, denn Modelle müßten ja auf einer
Plinthe aufgestellt gewesen sein.

Bei einigen der Figuren sind die Schilde getrennt
gearbeitet, bei anderen aber nicht. Das letztere
spricht für Maßnehmen nach großen Modellen. Augen-
maß nach kleineren Modellen würde bei so schwierig
sich kreuzenden Richtungen nicht genügen. Der Bild-
hauer hat den Bohrer verwendet (Blümner), und wie
sollte er ohne Maßnehmen in die rechte Tiefe hinein-
bohren können? Kannte ja doch auch der Bronze-
gießer längst die großen Modelle.

Der Gebrauch von großen Tonmodellen kann nicht
sofort überall aufgenommen worden sein. Bei dem
Olympiagiebel ist z. B. die Sachlage zweifelhaft; die
Abweichungen von der Frontalität oder von dem Re-
liefstil sind hier eben nicht groß. Die Kentauren-
kämpfe des Westgiebels sind hauptsächlich nur große
vom Hintergrunde befreite Hochreliefs, die Pferde-
gruppen des Ostgiebels sind es in noch ausgesproche-
nerem Grade. Apollon im Westgiebel und die Mittel-
gruppe des Ostgiebels sind ziemlich frontal, nur mit
leisen Abänderungen. (»Die Statuen tragen den Block
mit sich herum«, Justi: Michelangelo p. 398). Außer-
dem sind in den beiden Giebeln die Rückseiten nicht
ausgearbeitet, was man wohl an Tonmodellen getan
hätte. Die liegenden und hockenden Figuren bieten
kaum größere Schwierigkeiten dar als die Eretriagruppe
oder die Giganten aus dem älteren Athenatempel.
Daß die Komposition möglicherweise in kleinen
Skizzen entworfen sein kann, gebe ich gern zu.

Kurzer Sinn der langen Rede ist also, daß die Fron-
talität als notwendige Folge der Steintechnik entstanden
ist, und bei den Fortschritten der Technik (außerhalb
Ägyptens) allmählich abgestorben ist. Wo die Tech-
nik eine ganz verschiedene (Flachkunst, Relief) war,
da walteten andere Gesetze und die frontale »Ethik«
hatte keine Geltung.

Aber alles vollzieht sich nicht auf einmal. Auch
für die Phantasie war Zeit nötig, um die Resultate der
fortgeschrittenen Technik voll ausnützen zu können.
Die Flügel mußten sich zuerst auswachsen, und Nach-
klänge an die Frontalität und den Reliefstil hallen
lange wider, ehe der Kunst die Freiheit nach allen
Seiten hin gewonnen war. Für das Flachrelief wurde
die herkömmliche direkte Arbeit nach Aufzeichnung
in den Stein hinein länger beibehalten; im Parthenon-
fries war es noch so, der Grund ist in verschiedener
Tiefe ausgehauen. Umschwung kam erst mit dem
Hochrelief (Parthenonmetopen): die »unsichtbare Vor-
fläche« verschwindet, als das Tonmodell auf einer
glatten Tafel aufgebaut wird; dann wird der Grund
eben und das Relief bekommt beliebigen Vorsprung.

P. JOHANSEN

Kgl. Kunstakademie, Kopenhagen.
 
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