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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 28.1917

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Heise, Carl Georg: Glossen zu Propaganda "werdender Kunst"
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https://doi.org/10.11588/diglit.6187#0148

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275

Glossen zur Propaganda »Werdender Kunst«

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Parteiprogramm nicht entsprechen. Und gerade jetzt
ist es wahrlich nicht schwer, Brücken zu schlagen
zwischen gestern und heute. Impressionismus und
Expressionismus sind im Kern ihres Wollens ent-
gegengesetzt. Aber ein ernsthaftes Bemühen führt
über das billige Unterstreichen der Gegensätze hinaus
zum vorsichtigen Aufspüren der immerhin beachtens-
werten zeitlosen Gemeinsamkeiten und der tiefsten
Gründe für die langsame Überwindung impressio-
nistischer Ausdrucksweise durch den Versuch ge-
steigerter Vergeistigung und strafferen Aufbaus. Theo-
retisch ist das mit gutem Gelingen mehr als einmal
versucht, und das gleiche auf dem breiten Boden
einer illustrierten Monatsschrift auch durch praktische
Belege zu erweisen, ist eine reizvolle und lohnende
Aufgabe. Nichts ist ungeschickter als mit aufgeblasenen
Phrasen diese Möglichkeit von vornherein auszu-
schalten, nichts lächerlicher als in der Kunst der
herrschenden Meister nichts zu sehen als das »formel-
haft Schöne, glitzernd Gefällige und sinnlich Reizsame«
und den Impressionisten mit fatalster Journalistik so
zu charakterisieren: »Ruhelos, unstet und flüchtig wie
der sich selbst verlorene Kain durchraste er die Welt
des Selbstbetrugs, lüstern nach den Gaukelbildern der
Sinne, lechzend nach lockerem Augenschmaus, brünstig
nach dem Niefaßbaren, dem von Sekunde zu Sekunde
entschwebenden Kaleidoskopgeflimmer einer einge-
bildeten Wirklichkeit«. Ausdrücklich sei nochmals
betont, daß ein gründliches Versenken in die Welt
nachimpressionistischer Kunstgestaltung wohl die Auf-
gabe der Gegenwart ist, ja vielleicht eine ihrer dringend-
sten. Aber Achtung vor dem Gewordenen ist der erste
Grundpfeiler für die Wertung alles Werdenden.

Auch die Beziehungen des Neuerers zur bereits
historischen Kunst sind bedeutungsvoll. Es ist wichtig,
daß er überhaupt ein Verhältnis findet zu den großen
Meistern der Vergangenheit und daß es kein konven-
tionell gepflegtes ist, sondern ein selbständig erlebtes.
Mit Entschiedenheit muß die Auffassung einseitiger
Kathedergelehrter zurückgewiesen werden, die die Be-
schäftigung mit alter Kunst allein wissenschaftlicher
Erkenntnis vorbehalten wollen. Es ist eine der vor-
nehmsten Aufgaben jeder neuen Epoche, die Akzente
in der ästhetischen Wertschätzung vergangener künst-
lerischer Blütezeiten neu zu setzen, die Verwandtschaft
der Kunstgesinnung vergangener Jahrhunderte aufzu-
spüren und für das Schaffen der Gegenwart fruchtbar
zu machen. Ihre Erfüllung kommt auch der reinen
Wissenschaft zugute, indem sie entlegenere Stoffe neu
heraufführt und zur Erschließung ihrer Probleme
dringlicher auffordert. Asiatische und ägyptische Kunst,
die Produktion primitiver Völker, heimischer und
fremder, von den neueren Stilperioden endlich die
Kunst der Gotik und des Barock fordern vor allem
diese durchaus auf die Gegenwart zielende erneute
Betrachtung. Welche beglückende Aussicht, wenn
auch für das klassische Altertum und die italienische
Renaissance eine gründliche Revision der erstarrten
Werturteile sich Bahn brechen würde! Die revolutio-
nierende Kraft zur Beseitigung überlebter ästhetischer
Normen ist der sicherste Maßstab für die Bedeutung

einer neuen Kunstbewegung. Es ist ein unbestreit-
bares Verdienst des »Kunstblattes«, daß es gleich im
ersten Heft einen solchen Versuch zur Neubelebung
zu Unrecht entrückter künstlerischer Werte unternimmt.
Leider bleibt es ein unzulänglicher Versuch. Weniger
charakteristisch hätten die dargebotenen Proben der
gotischen Plastik nicht gewählt, zusammenhangloser
mit dem Bemühen der Gegenwart die Proben deut-
scher Mystik nicht eingestreut werden können. Ganz
indiskutabel ist die Abbildung einer Vitrine mit ägyp-
tischer Kleinplastik aus dem Berliner Museum, die
ein Erkennen der künstlerischen Werte wegen des
kleinen Formats und der Häufung der Gegenstände
überhaupt nicht zuläßt und durch eine unbeschreiblich
billige, volkserzieherisch zum Besuch der Museen er-
mahnende Überschrift vollends lächerlich gemacht
wird. Voraussetzung für solche Wiederbelebungsver-
suche bleibt die Übertragung der Aufgabe an er-
fahrene Forscher, die ihr Stoffgebiet bis in die feinsten
Verästelungen aller Erscheinungsformen beherrschen
und denen zugleich ein lebendiger Sinn lebt für das
entscheidende künstlerische Geschehen der Gegenwart.
Herr Westheim ist ein solcher Forscher nicht. Der
zweite Grundpfeiler für ein gediegenes Urteil über
die Kunst unserer Tage ist das lebendige Empfinden
für historische Werte, das nicht stehen bleibt bei ober-
flächlicher Dokumentierung der Kenntnis beliebter Stil-
epochen und mit geschulter, äußerst behutsamer Hand
tiefer hineinführt in das Geheimnis periodisch wieder-
kehrender Urtriebe künstlerischer Gestaltung.

Wichtiger noch als das Verhältnis zur Kunst der
Vergangenheit ist die Art der Würdigung der neuen
künstlerischen Werte selbst. Es ist gewiß nicht leicht,
den rechten Ton zu treffen. Es gehört mehr Liebe
als Geschicklichkeit dazu, mehr heißes, selbstloses Be-
mühen als eitle marktschreierische Gebärde. Niemals
kann es sich bei »werdender Kunst« darum handeln,
bestimmte Namen von zufälligem Modeklang zu
Gruppen zusammenfassen und in abgegriffenem Jargon
oberflächlich abzuhandeln. Eine neue Art eindring-
licher Einführung muß gefunden werden, die sich
nicht überschreit in stürmischer Lobeserhebung, die
aber durch das innige Versenken in die vom Künstler
neu erschlossene Welt die unwiderstehlich werbende
Kraft des nur der Sache hingegebenen Kämpfers be-
sitzt. Man wird nicht ein festumgrenztes Programm
abarbeiten können, sondern sich willig allem zuneigen
müssen, was den Stempel ehrlichen künstlerischen
Strebens trägt. Eins allerdings wird dabei völlig un-
möglich bleiben: die Garantie für absolute Werte. Es
ist ein törichter Ehrgeiz, sich aufwerfen zu wollen
zum Unfehlbarkeitsapostel für die Kunst der Gegen-
wart, die fließt und bei ständigem Wandel sich erst
■langsam festigt. Wenn Westheim von seiner Zeit-
schrift vorausverkündigt: »Alles Halbkünstlerische bleibt
aus ihren Spalten«, so ist das eitle Phrase und Selbst-
betrug. Nur völlige Unbestechlichkeit und ein un-
trügliches Gefühl für die Grenze von echtem Trieb
und künstlicher Mache, von schöpferischer Kraft und
virtuoser Nachempfindung können gefordert werden
— die Nachwelt erst wird die richterliche Abstufung,
 
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