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Die Literatur über
die jüngste Kunst
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befruchtet, ist die Vortrefflichkeit und Notwendigkeit
dieser Skribenten begründet.
Ob sie dabei mit kühlen Beweisen oder mit der
Grundgewalt des Enthusiasmus arbeiten, ändert wenig
am Ergebnis; im ersten Fall sprechen sie nicht von
Kunst, im zweiten Fall bringen sie sie dem Ver-
stände nicht nahe. Sie beschwören etwa aus einem
Werk, das ihnen wesensverwandt ist, eine entsprechende
Stimmung oder zwingen einem ihnen fremden eine
literarische Maske auf; dichterisches Erleben und Um-
schreiben eines Kunsteindrucks, das gelingt oder ver-
sagt. Aber selbst die eindringlichste Sprachschöpfung
macht Sonderart und Qualität eines bestimmten Werkes
nicht verständlicher; Meisterwerk und Stümperarbeit
schrumpfen gleicherweise zur zufälligen Auslösung
selbständiger neuer Leistung zusammen. Wie Cezanne
nach Papierblumen lebenduftende Stilleben malte, drehen
diese Interpreten aus Meisterwerken ihre Papierblumen
— so gut wie aus dilettantischem Gestümper. Sie
geben rein subjektive Interpretationen und leben trotz
aller Überwindung des Impressionismus, deren sie
sich rühmen, doch nur von persönlichen Eindrücken,
die sie freilich Erlebnisse nennen; denn das Vokabular
ist seit den Tagen Muthers radikal erneuert worden.
Dieses subjektive Element zeigt sich am besten in
der ungeheuerlichen Einseitigkeit, die immer nur ein
kleines Stück Kunst auf Kosten aller anderen anzu-
erkennen vermag; wie mit einem Scheinwerfer heben
sie einen schmalen Ausschnitt heraus und stoßen alles
andere in tiefere Finsternis. Warum diese Unduld-
samkeit, da alle Kunst, alt und neu, doch nur eine
in tausend Spiegelungen ist? Wie ein warnendes
Exempel steht der Hohepriester der impressionistischen
Kirche vor uns und hält mit der müßigen und ver-
zweifelten Frage, wohin wir treiben, der Kunst von
heute das abgedroschenste Klischee aller kulturellen
Entwicklung wie einen schützenden Schild entgegen!
Die Unfruchtbarkeit solcher persönlicher Kunst-
schriftstellerei, die für den Durchschnitt dieser Literaten
charakteristisch ist, hat manche der Autoren zu Ver-
suchen veranlaßt, ihre Auffassung und Erklärung mo-
derner Kunst allgemeiner zu verankern; manche haben
dabei eine an der alten Kunst bewährte Methode auf
die Gegenwart übertragen, indem sie die Kunst in
den Verband mit anderem geistigen Geschehen setzten.
Die Analogien mit dem philosophischen Denken, die
von anscheinend ganz kunstfremdem Standpunkt Lud-
wig Coellen und aus einem sehr starken Kunstgefühl
heraus Fritz Burger gefunden haben, sind wichtiger
und tiefergehend als die Erklärungen aus der sozialen
und wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart, die
Wilhelm Hausenstein — übrigens keineswegs hart-
näckig einseitig, sondern mit höchst beweglicher An-
schmiegsamkeit an die wohl erkannten Widerhaarig-
keiten und Sprödigkeiten des Stoffes — reichlich heran-
gezogen hat. Solche Analogien führen schon in der
vereinheitlichten Betrachtungsebene weit zurückliegen-
der Zeiten leicht zu trügerischen Ergebnissen; doppelt
irreführend können sie auf lebendige Bewegungen
angewandt werden. All diesen Erscheinungen liegen
— wie der Kunst — nur teilweise objektive Tatbe-
stände zugrunde; zum größeren Teile sind sie selbst
Ergebnisse von Interpretationen, die erst durch das
Medium fortschreitender Historisierung allmählich eine
verhältnismäßige Stabilität gewinnen; aus ihnen Kunst
erklären, heißt Unsicheres durch Schwankendes stützen,
zwei Negationen mögen einander aufheben, aber zwei
Rätsel geben noch keine Lösung. Trotzdem dient
diese Methode in höherem Grade rationaler Erkennt-
nis der Kunst als die rein gefühlsmäßigen Verzückungen
und Verzweiflungen der früher charakterisierten En-
thusiasten und Kryptoenthusiasten; einerseits weil durch
die Anwendung subjektiver Bewerlung auf zwei ge-
sonderte Gebiete — die Kunst und das Vergleichs-
gebiet — eine wechselseitige Kontrolle eintritt, ander-
seits weil die Rationalisierung der künstlerischen Tat-
sachen zum Zweck begrifflicher Erkenntnis hier im
vorhinein deutlicher ist. Die Vergleichbarkeit zweier
getrennter geistiger Gebiete hat ihre Bringung auf
einen gemeinsamen Nenner, also eine vorhergehende
Abstraktion zur Voraussetzung; denn in dem, was
ihr grundwesentlich und ureigentümlich ist, ist Kunst
offenbar sowohl der Philosophie wie dem sozialen
Leben unvergleichbar.
Nur unter konsequentem Festhalten des der Kunst
ausschließlich Eigenen und bei seinem völligen Ver-
arbeiten zu gedanklicher Einheit kann auch moderne
Kunst literarisch tiefer erfaßt und erklärt werden. Am
nächsten scheint mir diesem Ideal, das sich von sub-
jektivem Lyrismus und von der Betätigung an den
Außenseiten der Kunst gleich fern hält, das gedanken-
reiche Buch von Raphael zu kommen, obwohl es gleich-
falls von solchen Fehlern nicht ganz frei ist; vielleicht
sind diese überhaupt über die Schwächen der Autoren
hinaus Schatten, die im Stoffe liegen. Aber es ist
folgerichtig aufgebaut, wandelt die Kunst, ehe es sich
damit befaßt, völlig in ein Geistiges und verlegt alle
Vorgänge in ein Gebiet, in dem die Verfolgung und
Untersuchung möglich ist. Klarer und durchsichtiger
als in diesem Buche, das im dunkeln Brennpunkt
einer weitspannenden Weltanschauung liegt, hat A. E.
Brinckmann das Problem in seinem ausgezeichneten
Aufsatz »Vom Vorstellen und Gestalten des Kunst-
werkes« formuliert; er zeigt die Arbeit, die über Fest-
stellung von äußeren Tatsachen und über umschreibende
Wortmalerei hinaus auch an der Gegenwartskunst
ehrlich und fruchtbar geleistet werden kann, als eine
Analyse des künstlerischen Schaffens, als ein Stück
Psychologie an einem speziellen anschaulich erfaßten
Material. Es ist dasselbe, was heute vielfach als Kunst-
wissenschaft bezeichnet wird und eine Sonderstellung
beansprucht, m. E. aber ein unabtrennbarer Teil jeder
historischen Erkenntnis von Kunst ist. Auf moderne
Kunst angewendet keineswegs schon Kunstgeschichte,
aber ein unvergleichliches Analogiematerial für die
Einsicht in die Kunst der Vergangenheit und ein wahr-
haftes, vielleicht das einzige Mittel, der unzerstörten
Lebendigkeit unserer Kunst von heute mit dem Ver-
stände näherzukommen.
Wenn sie dieser doppelten Aufgabe nicht gerecht
wird, die Kunst dort zu belauschen, wo sie lebt und
wächst und ihre Beobachtungen zu Denkstoff umzu-
Die Literatur über
die jüngste Kunst
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befruchtet, ist die Vortrefflichkeit und Notwendigkeit
dieser Skribenten begründet.
Ob sie dabei mit kühlen Beweisen oder mit der
Grundgewalt des Enthusiasmus arbeiten, ändert wenig
am Ergebnis; im ersten Fall sprechen sie nicht von
Kunst, im zweiten Fall bringen sie sie dem Ver-
stände nicht nahe. Sie beschwören etwa aus einem
Werk, das ihnen wesensverwandt ist, eine entsprechende
Stimmung oder zwingen einem ihnen fremden eine
literarische Maske auf; dichterisches Erleben und Um-
schreiben eines Kunsteindrucks, das gelingt oder ver-
sagt. Aber selbst die eindringlichste Sprachschöpfung
macht Sonderart und Qualität eines bestimmten Werkes
nicht verständlicher; Meisterwerk und Stümperarbeit
schrumpfen gleicherweise zur zufälligen Auslösung
selbständiger neuer Leistung zusammen. Wie Cezanne
nach Papierblumen lebenduftende Stilleben malte, drehen
diese Interpreten aus Meisterwerken ihre Papierblumen
— so gut wie aus dilettantischem Gestümper. Sie
geben rein subjektive Interpretationen und leben trotz
aller Überwindung des Impressionismus, deren sie
sich rühmen, doch nur von persönlichen Eindrücken,
die sie freilich Erlebnisse nennen; denn das Vokabular
ist seit den Tagen Muthers radikal erneuert worden.
Dieses subjektive Element zeigt sich am besten in
der ungeheuerlichen Einseitigkeit, die immer nur ein
kleines Stück Kunst auf Kosten aller anderen anzu-
erkennen vermag; wie mit einem Scheinwerfer heben
sie einen schmalen Ausschnitt heraus und stoßen alles
andere in tiefere Finsternis. Warum diese Unduld-
samkeit, da alle Kunst, alt und neu, doch nur eine
in tausend Spiegelungen ist? Wie ein warnendes
Exempel steht der Hohepriester der impressionistischen
Kirche vor uns und hält mit der müßigen und ver-
zweifelten Frage, wohin wir treiben, der Kunst von
heute das abgedroschenste Klischee aller kulturellen
Entwicklung wie einen schützenden Schild entgegen!
Die Unfruchtbarkeit solcher persönlicher Kunst-
schriftstellerei, die für den Durchschnitt dieser Literaten
charakteristisch ist, hat manche der Autoren zu Ver-
suchen veranlaßt, ihre Auffassung und Erklärung mo-
derner Kunst allgemeiner zu verankern; manche haben
dabei eine an der alten Kunst bewährte Methode auf
die Gegenwart übertragen, indem sie die Kunst in
den Verband mit anderem geistigen Geschehen setzten.
Die Analogien mit dem philosophischen Denken, die
von anscheinend ganz kunstfremdem Standpunkt Lud-
wig Coellen und aus einem sehr starken Kunstgefühl
heraus Fritz Burger gefunden haben, sind wichtiger
und tiefergehend als die Erklärungen aus der sozialen
und wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart, die
Wilhelm Hausenstein — übrigens keineswegs hart-
näckig einseitig, sondern mit höchst beweglicher An-
schmiegsamkeit an die wohl erkannten Widerhaarig-
keiten und Sprödigkeiten des Stoffes — reichlich heran-
gezogen hat. Solche Analogien führen schon in der
vereinheitlichten Betrachtungsebene weit zurückliegen-
der Zeiten leicht zu trügerischen Ergebnissen; doppelt
irreführend können sie auf lebendige Bewegungen
angewandt werden. All diesen Erscheinungen liegen
— wie der Kunst — nur teilweise objektive Tatbe-
stände zugrunde; zum größeren Teile sind sie selbst
Ergebnisse von Interpretationen, die erst durch das
Medium fortschreitender Historisierung allmählich eine
verhältnismäßige Stabilität gewinnen; aus ihnen Kunst
erklären, heißt Unsicheres durch Schwankendes stützen,
zwei Negationen mögen einander aufheben, aber zwei
Rätsel geben noch keine Lösung. Trotzdem dient
diese Methode in höherem Grade rationaler Erkennt-
nis der Kunst als die rein gefühlsmäßigen Verzückungen
und Verzweiflungen der früher charakterisierten En-
thusiasten und Kryptoenthusiasten; einerseits weil durch
die Anwendung subjektiver Bewerlung auf zwei ge-
sonderte Gebiete — die Kunst und das Vergleichs-
gebiet — eine wechselseitige Kontrolle eintritt, ander-
seits weil die Rationalisierung der künstlerischen Tat-
sachen zum Zweck begrifflicher Erkenntnis hier im
vorhinein deutlicher ist. Die Vergleichbarkeit zweier
getrennter geistiger Gebiete hat ihre Bringung auf
einen gemeinsamen Nenner, also eine vorhergehende
Abstraktion zur Voraussetzung; denn in dem, was
ihr grundwesentlich und ureigentümlich ist, ist Kunst
offenbar sowohl der Philosophie wie dem sozialen
Leben unvergleichbar.
Nur unter konsequentem Festhalten des der Kunst
ausschließlich Eigenen und bei seinem völligen Ver-
arbeiten zu gedanklicher Einheit kann auch moderne
Kunst literarisch tiefer erfaßt und erklärt werden. Am
nächsten scheint mir diesem Ideal, das sich von sub-
jektivem Lyrismus und von der Betätigung an den
Außenseiten der Kunst gleich fern hält, das gedanken-
reiche Buch von Raphael zu kommen, obwohl es gleich-
falls von solchen Fehlern nicht ganz frei ist; vielleicht
sind diese überhaupt über die Schwächen der Autoren
hinaus Schatten, die im Stoffe liegen. Aber es ist
folgerichtig aufgebaut, wandelt die Kunst, ehe es sich
damit befaßt, völlig in ein Geistiges und verlegt alle
Vorgänge in ein Gebiet, in dem die Verfolgung und
Untersuchung möglich ist. Klarer und durchsichtiger
als in diesem Buche, das im dunkeln Brennpunkt
einer weitspannenden Weltanschauung liegt, hat A. E.
Brinckmann das Problem in seinem ausgezeichneten
Aufsatz »Vom Vorstellen und Gestalten des Kunst-
werkes« formuliert; er zeigt die Arbeit, die über Fest-
stellung von äußeren Tatsachen und über umschreibende
Wortmalerei hinaus auch an der Gegenwartskunst
ehrlich und fruchtbar geleistet werden kann, als eine
Analyse des künstlerischen Schaffens, als ein Stück
Psychologie an einem speziellen anschaulich erfaßten
Material. Es ist dasselbe, was heute vielfach als Kunst-
wissenschaft bezeichnet wird und eine Sonderstellung
beansprucht, m. E. aber ein unabtrennbarer Teil jeder
historischen Erkenntnis von Kunst ist. Auf moderne
Kunst angewendet keineswegs schon Kunstgeschichte,
aber ein unvergleichliches Analogiematerial für die
Einsicht in die Kunst der Vergangenheit und ein wahr-
haftes, vielleicht das einzige Mittel, der unzerstörten
Lebendigkeit unserer Kunst von heute mit dem Ver-
stände näherzukommen.
Wenn sie dieser doppelten Aufgabe nicht gerecht
wird, die Kunst dort zu belauschen, wo sie lebt und
wächst und ihre Beobachtungen zu Denkstoff umzu-