tigste studieren muß, um zu einem Urteil zu
kommen, welche nach der Natur und welche nicht
nach der Natur gemacht worden sind und ob es
charakteristische Unterschiede gibt, mittelst derer
man feststellen kann, ob eine Vorlage benutzt
worden ist oder nicht.
Dies alles braucht Martin nicht. Er bildet sich mit
größter Sicherheit unmittelbar ein Urteil. Ich dagegen
habe all diese Punkte berücksichtigt, ehe ich das Blatt
als an ürt und Stelle skizziert veröffentlichte. Ich habe
die topographisohe Sammlung im British Museum sowie
im lokalen Museum in St. Albans durchforscht, ohne
„einen Sticli oder dergleichen“ (!) zu finden, der früher
ist als Rembrandts Skizze. Ich habe auch die Stelle
gefunden und in meinem Aufsatz in Oud Holland ange-
geben, von wo aus die Ansicht genommen ist und
schließlich liabe ich die einigen siebzig Zeichnungen die
Frits Lugt alle als nach der Natur aufgenommen topo-
graphisch fixiert hat und noch acht andere, die er nicht
erwähnt: Muiderberg 2) Ransdorp 3) Ruine von Schloß
Honingen (2)4) Dordrecht5) und drei englische An-
sichten 6) überprüft und für keine einzige eine Vorlage
gefunden, und ebensowenig Andeutungen, daß sie nach
Vorlagen gemacht wären.
Wo es also über achtzig topographische Zeicli-
nungen Rembraudts, sowie eine Anzahl Landschafts-
radierungen gibt, von denen bis jetzt ohne Widerspruch
angenommen wird 7), daß Rembrandt sie nach der Natur
skizziert habe, gehört etwas mehr als eine nur durch
„Stilgefühl“ gestiitzte Behauptung dazu, um glaubhaft
zu machen, daß Rembrandt in diesem einzigen Fall eine
graphische Vorlage'benutzt und nicht an ürt und Stelle
gezeiclmet habe.
Aber, wird man mir vorwerfen, die Zeichnung zeigt
einige wichtige Abweichungen von dem Tatbestand,
wie aus dem Vergleich mit der 15 Jahre später er-
schienenen Radierung von King hervorgeht. Ich habe
diese Abweichungen auch ausdrücklich betont (üud
Holländ 1921 S. 4) und hinzugefügt, daß Rembrandt sicli
derartiges auch sonst erlaubt hat. So hat er z. B. den
Montalbaansturm und den Turm Swyght Utrecht ohne
die zu seiner Zeit darauf befindliche Spitze bzw. das
Dach gezeichnet. Fr hat auf der Ansicht der Marien-
kirclie in Utrecht den Westturm viel zu weit nach links
gerückt und statt des hohen gotischen ('hors einen
niedrigen gezeichnet. Auf den beiden Ausichten des
Westtores von Rhenen hat er den beiden Türmen das
') In meincr SamrnluiiK.
®) Im Ashmolean Museum in Oxford.
b In München.
°) In Chantilly.
“) In Berlin und Wien.
7) Man vergl. z. B. von Seidlitz in der Kunstchronik vom
6. Aug. 1915: „es war anzunehmen, daß die Mehrzahl dieser Dar-
stellungen (gez. u. rad. Landschaften), die sicli von seinen ge-
malten Landschaften dadurch unterscheiden, daß sie nicht Phan-
tasiegebildc, sondern die Wirklichkeit wicdergeben, an dem Orte
entstanden seien, dem Rembrandt das Gcpräge seiner Kunst auf-
gedriickt hat.“
eine Mal pyramiden- das andere Mal kegelfürmige
Dächer gegeben. Es sind dies Freiheiten, die ganz zu
seiner Eigenart passen: was für ihn in einem gewissen
Moment niclit Hauptsache ist, behandelt er als Neben-
sache: es möge eine Komposition, eine menschliche
Gestalt, ein Beleuchtungseffekt oder eine Land-
schaft sein.
Ich kann dem, was ich a. a. 0. über die Naturbeob-
achtung Rembrandts in seiner Zeichnung von St. Albans
sagte, noch Folgendes hinzufügen. Man bemerkt an der
Kathedrale unter der Dachrinne, an der Stelle wo die
Südwand des Langschiffes und die Westwand des siid-
ilchen Querschiffes zusammenstoßen, einen kleinen Ver-
bindungsbogen (abgeb. im jetzigen Zustand z. B. auf
S. 27 von Perkins, Cathr. Church of St. Albans). Diesen
Bogen hat Rembrandt beobachtet und wiedergegeben.
Man sieht dies besser in der Facsimile-Reproduktion auf
Tafel 31 in F. Beckers Mappe mit Handzeichnungen aus
meiner Sammluug als auf der kleineren Abbildung in
Oud Holland. Dieser Bogen ist so unauffällig, daß es
nicht anzunelnnen ist, Rembrandt habe ihn auf einer
Reproduktion bemerkt und nach ihr richtig wiederge-
geben. Er ist für mich, trotz meines schwachen Stil-
gefühls, der untrügliche Beweis, daß Rembrandt nach
der Natur gezeichnet hat.
In seincni Aufsatz beklagt mein verehrter Kollege
s-ich über meinen Mangel an Ernst und den soharfen
Ton, in dem ich meinen Tadel und meine abweichende
Ansicht wiederg’egeben habe. Finerseits muß ich hierzu
bemerken, daß gegenüber seinen „Ungeheuerlichkeiterr
ein Ton, der an Deutlichkeit der Zurückweisung nichts
zu wünschen übrig ließ, notwendig war. Andererseits
gebe ich zu, daß der Ton den Gegner schärfer trifft als
eineu dritten. Deshalb habe ich vor der Drucklegung
das Manuskript meiner Broschüre einem Kollegen vor-
gelegt mit der Bitte, jeden unnötig scharfen und ver-
letzenden Ausdruck zu mildern. Mein Bestreben war
und ist: unumwunden und deutlich meine Ansicht zu
sagen : sachlich, nicht persönlich.
N a c h w o r t.
Während der Drucklegung dieses Aufsatzes er-
reicht mich das Septemiberheft 1/2 des „Kunstwande-
rers“, in dem Bode zu den Ausführungen Martins Stel-
lung uimmt. Ich möchte hierzu folgendes bemerken:
Bereits vor dem Frscheinen des ersten Bandes war
ich Bode’s Mitarbeiter, wie aus dem Titelblatt ohne
Weiteres bervorgeht. Während Bode’s Anteil nach der
von ihm vorgenommenen Auswahl des Materials und
der Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge, darin be-
stand, daß er zu jedem Band die Einleitung über den
Fntwicklungsgang des Künstlers schrieb, liabe ich in
der Hauptsache die Beschreibungen der Bilder, ilire
Stammbäume, ihre Erwähnungen in der Literatur, die
Aufzählung der Reproduktionen und die biographischen
Notizen über die dargestellten Personcn beigesteuert.
Die Verantwortung für die Auswahl der aufgenomme-
nen Bilder beruhte ausschließlich bei meinem viel
älteren, mehr erfahrenen und damals mehr gereisten
34
kommen, welche nach der Natur und welche nicht
nach der Natur gemacht worden sind und ob es
charakteristische Unterschiede gibt, mittelst derer
man feststellen kann, ob eine Vorlage benutzt
worden ist oder nicht.
Dies alles braucht Martin nicht. Er bildet sich mit
größter Sicherheit unmittelbar ein Urteil. Ich dagegen
habe all diese Punkte berücksichtigt, ehe ich das Blatt
als an ürt und Stelle skizziert veröffentlichte. Ich habe
die topographisohe Sammlung im British Museum sowie
im lokalen Museum in St. Albans durchforscht, ohne
„einen Sticli oder dergleichen“ (!) zu finden, der früher
ist als Rembrandts Skizze. Ich habe auch die Stelle
gefunden und in meinem Aufsatz in Oud Holland ange-
geben, von wo aus die Ansicht genommen ist und
schließlich liabe ich die einigen siebzig Zeichnungen die
Frits Lugt alle als nach der Natur aufgenommen topo-
graphisch fixiert hat und noch acht andere, die er nicht
erwähnt: Muiderberg 2) Ransdorp 3) Ruine von Schloß
Honingen (2)4) Dordrecht5) und drei englische An-
sichten 6) überprüft und für keine einzige eine Vorlage
gefunden, und ebensowenig Andeutungen, daß sie nach
Vorlagen gemacht wären.
Wo es also über achtzig topographische Zeicli-
nungen Rembraudts, sowie eine Anzahl Landschafts-
radierungen gibt, von denen bis jetzt ohne Widerspruch
angenommen wird 7), daß Rembrandt sie nach der Natur
skizziert habe, gehört etwas mehr als eine nur durch
„Stilgefühl“ gestiitzte Behauptung dazu, um glaubhaft
zu machen, daß Rembrandt in diesem einzigen Fall eine
graphische Vorlage'benutzt und nicht an ürt und Stelle
gezeiclmet habe.
Aber, wird man mir vorwerfen, die Zeichnung zeigt
einige wichtige Abweichungen von dem Tatbestand,
wie aus dem Vergleich mit der 15 Jahre später er-
schienenen Radierung von King hervorgeht. Ich habe
diese Abweichungen auch ausdrücklich betont (üud
Holländ 1921 S. 4) und hinzugefügt, daß Rembrandt sicli
derartiges auch sonst erlaubt hat. So hat er z. B. den
Montalbaansturm und den Turm Swyght Utrecht ohne
die zu seiner Zeit darauf befindliche Spitze bzw. das
Dach gezeichnet. Fr hat auf der Ansicht der Marien-
kirclie in Utrecht den Westturm viel zu weit nach links
gerückt und statt des hohen gotischen ('hors einen
niedrigen gezeichnet. Auf den beiden Ausichten des
Westtores von Rhenen hat er den beiden Türmen das
') In meincr SamrnluiiK.
®) Im Ashmolean Museum in Oxford.
b In München.
°) In Chantilly.
“) In Berlin und Wien.
7) Man vergl. z. B. von Seidlitz in der Kunstchronik vom
6. Aug. 1915: „es war anzunehmen, daß die Mehrzahl dieser Dar-
stellungen (gez. u. rad. Landschaften), die sicli von seinen ge-
malten Landschaften dadurch unterscheiden, daß sie nicht Phan-
tasiegebildc, sondern die Wirklichkeit wicdergeben, an dem Orte
entstanden seien, dem Rembrandt das Gcpräge seiner Kunst auf-
gedriickt hat.“
eine Mal pyramiden- das andere Mal kegelfürmige
Dächer gegeben. Es sind dies Freiheiten, die ganz zu
seiner Eigenart passen: was für ihn in einem gewissen
Moment niclit Hauptsache ist, behandelt er als Neben-
sache: es möge eine Komposition, eine menschliche
Gestalt, ein Beleuchtungseffekt oder eine Land-
schaft sein.
Ich kann dem, was ich a. a. 0. über die Naturbeob-
achtung Rembrandts in seiner Zeichnung von St. Albans
sagte, noch Folgendes hinzufügen. Man bemerkt an der
Kathedrale unter der Dachrinne, an der Stelle wo die
Südwand des Langschiffes und die Westwand des siid-
ilchen Querschiffes zusammenstoßen, einen kleinen Ver-
bindungsbogen (abgeb. im jetzigen Zustand z. B. auf
S. 27 von Perkins, Cathr. Church of St. Albans). Diesen
Bogen hat Rembrandt beobachtet und wiedergegeben.
Man sieht dies besser in der Facsimile-Reproduktion auf
Tafel 31 in F. Beckers Mappe mit Handzeichnungen aus
meiner Sammluug als auf der kleineren Abbildung in
Oud Holland. Dieser Bogen ist so unauffällig, daß es
nicht anzunelnnen ist, Rembrandt habe ihn auf einer
Reproduktion bemerkt und nach ihr richtig wiederge-
geben. Er ist für mich, trotz meines schwachen Stil-
gefühls, der untrügliche Beweis, daß Rembrandt nach
der Natur gezeichnet hat.
In seincni Aufsatz beklagt mein verehrter Kollege
s-ich über meinen Mangel an Ernst und den soharfen
Ton, in dem ich meinen Tadel und meine abweichende
Ansicht wiederg’egeben habe. Finerseits muß ich hierzu
bemerken, daß gegenüber seinen „Ungeheuerlichkeiterr
ein Ton, der an Deutlichkeit der Zurückweisung nichts
zu wünschen übrig ließ, notwendig war. Andererseits
gebe ich zu, daß der Ton den Gegner schärfer trifft als
eineu dritten. Deshalb habe ich vor der Drucklegung
das Manuskript meiner Broschüre einem Kollegen vor-
gelegt mit der Bitte, jeden unnötig scharfen und ver-
letzenden Ausdruck zu mildern. Mein Bestreben war
und ist: unumwunden und deutlich meine Ansicht zu
sagen : sachlich, nicht persönlich.
N a c h w o r t.
Während der Drucklegung dieses Aufsatzes er-
reicht mich das Septemiberheft 1/2 des „Kunstwande-
rers“, in dem Bode zu den Ausführungen Martins Stel-
lung uimmt. Ich möchte hierzu folgendes bemerken:
Bereits vor dem Frscheinen des ersten Bandes war
ich Bode’s Mitarbeiter, wie aus dem Titelblatt ohne
Weiteres bervorgeht. Während Bode’s Anteil nach der
von ihm vorgenommenen Auswahl des Materials und
der Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge, darin be-
stand, daß er zu jedem Band die Einleitung über den
Fntwicklungsgang des Künstlers schrieb, liabe ich in
der Hauptsache die Beschreibungen der Bilder, ilire
Stammbäume, ihre Erwähnungen in der Literatur, die
Aufzählung der Reproduktionen und die biographischen
Notizen über die dargestellten Personcn beigesteuert.
Die Verantwortung für die Auswahl der aufgenomme-
nen Bilder beruhte ausschließlich bei meinem viel
älteren, mehr erfahrenen und damals mehr gereisten
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