Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 12./​13.1930/​31

DOI Heft:
1./2. Novemberheft
DOI Artikel:
Westheim, Paul: Utrillo
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.26236#0084

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
sicli eben so. Hr kann einfach nicht dagegen an. So
eben ist seine Handschrift, sein Naturell . . . Das gauze
Geheimnis ist vielleicht nur dies: U t r i 11 o i s t e i n e
Na'.turbegab u n g.

Sicherlich ist auch das Sensationelle an dieser Male-
rci. Das, wodurch Utrillo mit einem Male in aller Welt
ein vielgenannter Maler .ccworden ist. Da sitzen die
Leute und konstruieren Hntwicklungslinien der Kunst-
geschichte, konstruieren Drahtgeflech-te, an denen man
mit mathematischer Sicherheit fast das Weiterwachsen
vorausbestimmen kann. Aber es sind nur die Zucht-
pflänzchen, die so vorgeschrieben brav weiterranken ...
Das wird gehegt, gepflcg-t, begossen, bestaunt, während-
dem abseits und unbeachtet ein wilder Schößling auf-
treibt, der mit seiner Näturkraft und Naturpracht all das
Gezticht zu einem Treibhauskunstprodukt rnacht.
Tlioma war so einer olme Drahtgeflecht, einer, der
nur sich ausmalen konnte, nur so malen konnte, wie es
aus ihm herauskam. Henri R o u s s e a u war solch
Outsider, v a n G o g li solcli Besessener, C e z a n n e
solch unvorhergesehenes und unvorsehbares Elemen-
tärereignis. Wenn so einer auftritt, dann stimmen auf
einmal alle Vorausberechnungen, alle Kartenhäuser der
ddieorie, alle vorgezeichneten Entwicklungslinien nicht
mehr. Dann ist da — eine neuc Kunst, und ü'ber kurz
oder lang hat die Aesthetik init einern neuen Kapitel zu
beginnen.

Was Utrillo malt? D i e a 11 e r e i n f a c h s t e n
D i n g e. Straßen, durcli die man schlendert, Mont-
martre-Gewinkel, das über kurz oder lang doch ein-
mal dem „Fortschritt“ zum Qpfer gefallen sein wird,
das schon umwittert ist vom romantischen Haucli des
Absterbenden, Häuser, an denen man vorbeikommt,
eine lange weiße Gartenmauer, über die vielleicht ein
Stückchen Baumwipfel ragt, Kirchen und Kirchtiirme,
allerlei, was man so auf der Ansichtskarte mitnimmt
und was eigentlich einmal aucli nacli dcr Ansichtskarte
gemalt worden. Welt, die jedermann vor Augen hat
und die — docli fast niemand sielit. Es geht in diesen
Straßen nichts weiter vor, es sind nicht einmal
Menschen darin. Es ist so, als stände man plötzlich vor
cinem Haus, mit weißen Putzwänden, grünen Fenster-
läden, einem Ladenschild oder einer dieser rotenTabaks-
trafikrollen. wie man sie in Frankreich hat. Aber es
ist auch, als ob dieses Haus auf einmal zu einem spräche.
Es hat ein Gesicht, die verwitterte Physiognomie eines
alten Mannes. So wie die vom Sturm gepeitschten
Olivenbäume des van Gogh ihr Gesicht liatten, aufzu-
wirbeln schienen in gcllender Ekstase. Nur daß beim
Utrillo nichts ekstastisch aufzuckt und aufschreit, son-
dern vor seincm blaueii Sonnenhinnnel einfach da und
an seiuem Platz ist, so wie eiu x-beliebiger Mensch da
und in der Welt ist. Auch das ist wie beim van Gogh,
der darauf versessen war, das Allereinfachste, das ihm
Nächstliegende zu inalen: die Kartoffelesser, seinen
Fieund: den Briefträger, das Bett in seinem Schlaf-
ziimner, das kleine Cafe, in dem er manchmal Zuflucht
suchte. Nur gibt’s beim Utrillo nicht die salpetri'ge
Aggressivität; urn seine kleinen Ausschnitte aus dcr

Welt ist nur (wie beim Maupassant) eine leichte Melan-
cliolie gebreitet . . .

Aber wie so ein lfaus iu seiner ganzen Körper-
haftigkeit plötzlich vor einern stelit, von einem emaille-
liaften Himmel wie von einem Kuppelhorizont umspannt,
das läßt einen auffahren wie nach einem Traum, wo
irgendein Gegenstand, den man Tag um Tag unr sich
hat, auf einmal zum Greifen phantastisch vor einem
stand. Das ist das Se’.tsame an den Bildern des Utrillo,
daß an ihnen alles so wirklich und zugleich alles aucli
so überwirklich ist. Niclit wie bei Pissaro oder bei
Monet, wo alles zu verschwinden scheint liinter einem
Schleier, dem oft so bestrickenden Schleier des Atmos-

Utrillo, Notre Dame. Galerie Flechtheim, Berlin

phärischen. Nein, Utrillo führt einen ganz nahe heran
an die Dinge. Und daß geradc dadurch diese Dinge zu
entschwinden scheinen, ist das Schicksalhafte dabei . . .

Was Utrillo so malt, ein Haus, eine Straße, ist, wie
gesagt, das AHereinfachste von der Welt. Aber als
M a 1 e r e i i s t s i e k e i n e s w e g s e i n f a c h.
Utrillo ist niclit die Spur Primitivling. Im Gegenteil,
scine Malerei ist geradezu raffinert, ist g r o ß a r t i g
reich in der Beherrschung aller Mittel. Nur ist das
alles bei ihm uicht verstandes- sondern instinktmäßig.
Es muß ihm im Blut liegen. Vielleicht angeerbt von der
Mutter, der V a 1 a d o n , die ja selbst begabte Malerin
ist und nocli immer mehr als mancher andere kann. Man
sagt, daß es keinen gäbe, der eine weiße Mauer — die
einzigartigen Bilder aus Korsika! — so wie Utrillo
malen könne. Ein Stückchen weiße Mauerü Was das
schon ist! Da lese ich gerade in dem Buch eines ameri-
kani'schen Architekten: Lewis Mumford („Vom

72
 
Annotationen