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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 12./​13.1930/​31

DOI Heft:
1./2. Dezemberheft
DOI Artikel:
Alten, Wilken von: Zur Deutung von Botticellis "La Derelitta"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26236#0122

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But? Deutung uon Botticctlis Xa Deeelitta"

oon

U). oon Attcn —Bcemcn

Tn der italienischen Ausstellung der Royal Academie
war unter der dort besonders großartigen Vertretung
der Kunst Botticellis auch jenes merkwürdige Bildchen
aus dem Besitz des Fürsten Palavicini in Rom zu sehen,
das man sich die „Derelitta“ zu nennen gewöhnt hat.
Dieses, mehr in der Reproduktion als im Original be-
kannte und berühmte B'ild, hat durch seiuen schwer
deutbaren und sonderbar modern anmutenden Inhalt
die Phantasie von je in außergewöhnlichem Maße
angeregt.

Die violcttbraune Wand eines palastartigen,
ernsten Renaissance-Quaderbaues nimmt, die Dar-
stellung nach hinten abschließend, den ganzen Mittel-

grund des 47 : 41 cm messenden Bildes ein. Auf der
bankartig dieser Mauer vorgelegten Stufe sitzt neben
dem Torgewölbe, das in der Tiefe durch eiue dunkle
Tür — unerbittlich will uns scheinen — geschlossen ist,
ein Weib, barfuß, nur mit einem weißen Hemde beklei-
det, vornübergebeugt, das von schwarzem Haar um-
flossene Gesicht in den Händen bergend. Stufen führen
zum Palast hinauf. Auf ihnen liegen, achtlos verstreut,
Kleidungsstücke. Die Verzweiflung spiegelnde Haltung
des Weibes, ihre dürftige Kleidüng, aber auch die Karg-
heit der Szenerie, der Zeichnung und der farbigen Hal-
tung vermitteln zwingend den Eindruck hoffnungsloser
Trauer. Solche durch eine Einzelfigur, eine Art Genre-
figur, auszudrücken, erscheint fiir die Zeit um 1500 un-
gewöhnlich. Daher hat auch Hartlaub in „Matteo di
Siena“, dem sich Schubring: Cassoni Nr. 312 anschließt,
eine Erklärung vorgeschlagen, die, sicher mit Recht,

von der Annahme ausgeht, daß die „Derelitta“ zu einer
Folge von mehreren, wahrscheinlich drei Bildern ge-
liöre. Er glaubt, diese hätteu die Geschichte der Thamar
(1. Bucli Mosis Kap. 38) illustriert, und die „Derelitta“
zeige, als zweites Bild der Folge, Thamar, wfe sie in
Vers 14 geschildert ist: „Da legte sie die Witwenldeider
von sich, die sie trug, deckte sich mit eiuem Mantel und
verhüllte sicli und setzte sicli vor die Tiir heraus an
dem Wege gen Timnath . . .“

Bei dieser Deutung bleibt jedocli manches unge-
klärt: die „Derelitta4 ist nicht mit einem Mantel, son-
dern einem Hernde bekleidet, ihre anderen Kleidungs-
stücke scheint sie nicht „von sich gelegt“ zu haberi,

souderu sie liegen unordentlich verstreut da, sie sitzt
nicht an einem Wege, sondern auf Palaststufen und vor
einer Tür, deren Geschlossensein uns eine besondere
Bedeutsamkeit zuzukommen scheint.

So ist die Erklärung Venturis (Storia del Artc
Italiana, vol. VII, I S. 632 f.) einleuchtender, daß es sich
um die Geschichte des Kebsweibes des Leviten handle.
Als der Levit (Buch der Richter Kap. 19) mit seinem
Kebsweibe in Gibea übernachten will, „da (V. 22)
kamen die Leute der Stadt, böse Buben und umgaben
das Haus und pochten an die Tür und sprachen zu dem
alten Manne, dem Hauswirt: „Bringe den Mann heraus,
der in dein Haus kommen ist, daß wir ihn erkennen.“
Es wird dann weiter erzählt, wie ihnen das Kebsweib
herausgegeben wird: „ . . . die erkennten sie und zer-
arbeiteten sich die ganze Nacht bis an den Morgen,
und da die Morgenröte anbrach, ließen sie sie gehen.

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