Da kam das Weib iiart vor Morgen und fiel rrieder vor
der Tür am Hause des Maimes, da ihr Herr irmen war
und lag da, bis es licht ward.“
Hier würde die Geschlossenlieit der Ttir, die dürf-
tige Kleidung des Weibes, die, wie als Zeugen der
wilden nächtlichen Szene, verstreut hingeworfenen
Uebergewänder höchst eindringliche Bestandteile der
Schilderung bedeuten.
Eine Bestätigung dieser Deutung scheint mir nun
eine Zeichnung des hessischen Landesmuseums in
Darmstadt zu sein, welche kürzlich in „Stift und Feder“
Heft 4, Januar 1930 Nr. 75/76 reproduziert und von Karl
Freund beschrieben wurde (s. Abb.). Diese weiß ge-
hö'hte und getuschte Federzeichnung (232 : 363 mm),
also in der Höhe fast genau die Hälfte der „Derelitta“
messend, wird dort als „Unterer Teil einer Herabkunft
des heiligen Geistes“ publiziert und der Botticelli-
Schule zugeschrieben, während Schönbrunner-Meder
„Handzeichnungen aus der Albertina“ Nr. 578 sie noch
für Botticelli selbst in Anspruch nahmen.
Sieben Männer stehen vor einer Palastfront mit um-
laufender Bankstufe, welche die ganze Breite der Dar-
stellung einnimmt. Zwei; von ihnen scheinen die in der
Mitte befindliche geschlossene Doppeltür mit Gewalt
eindrücken zu wollen, die anderen blicken, den Mund
geöffnet, mit lebhaft fordernden Handbewegungen nacli
oben, als ob sie einer dort — außerhalb der Dar-
stellung — zu denkenden Person zuriefen. Der Ober-
körper eines achten ähnlich gestikulierenden Mannes
wird unten vor einer zu der Palastfront heraufführen-
den Stufe sichtbar.
Die Anzahl und die Gesten der Männer, der Schau-
platz, der kaum als Saal zu deuten ist, das Fehlen der
„feurigen Zungen“, die Bedeutsarnkeit der geschlosse-.
nen Tür, die Tracht der Männer, die zuin Teil Turbane
oder Hüte tragen, wie es wohl ftir heidnische oder alt-
testamentliche Personen, nicht aber für die Apostel
tiblich ist, scheint mir eine Deutung der Szene als einer
Ausgießung des heiligen Geistes entgegenzustehen. Die
oben erwähnte Geschichte von der Frau des Leviten
hingegen dürfte eine zwanglose Deutung der Zeichnung
geben. Diese aufgeregt gestikulierenden Männer sind
alles andere als heilige Apostel: es sind die „bösen
Buben“ aus Gibea, die an der Tür des alten Mannes
pochen und die Herausgabe des Leviten fordern. Als
solche ist ihre Kleidung, ihr Bestürmen der geschlosse-
nen Tür, ihr nach oben Rufen und Deuten ohne wei-
teres erklärlich.
Es würde dann unsere Zeichnung zu einem zweiten
Bilde der geforderten Folge gehören, in welche die
„Derelitta“ gehört, die ja auch nicht nur im Thema, son-
dern auch in der formalen Gestaltung mit dem Bild-
abschluß durch eine nahe an die vordere Elildzone ge-
rückte Mauer — sie setzt beidemale etwa in V3 Bild-
höhe an — engen Zusammenhang zeigt. Ob dem Um-
stand, daß sowohl hier wie dort eine geschlossene Tür
inhältlicher und kompositioneller Mittelpunkt der Szene
ist, tiefere Bedeutung zukommt? Etwa Jungfern-
schaftssymbolik?
Schubring (Cassoni S. 120) scheint für die
„Derelitta4 nicht eine Verwendung als eigentliches
Truhenbild anzunehmen, sondern als eines Einsatzbildes
in ein anderes Möbel oder eine Zimmertäfelung. Da
jedoch das Höhenmaß der „Derelitta“ (47 cm) durcli-
aus dem eines Cassonebildes entspricht, könnte ich mir
sehr wohl denken, daß sie, entweder als Seitenstück,
oder mit der Szene der Darmstädter Zeichnung und
einer dritten aus derselben Geschichte zusammen die
Vorderwand einer Truhe eingenommen und sich dort
auf der linken Seite befunden habe. In diesem Zu-
sammenhange und in dieser Verwendung würde die
Botticelli, La Derelitta
„Derelitta“ viel von ihrer befremdenden inhaltlichen
Modernität verlieren.
Unsere Zeichnung wird, wohl mit Recht, der
Botticelli-Schule, nicht dem Meister selbst zugeschrie-
ben. Vielleicht könnte dann auch die Bestimmung der
„Derelitta“ auf Botticelli, die zuerst Venturi 1896 in dcn
„Tesori d’Arte inediti in Roma“ gab, der aber Crowe
und Cavalcaselle ihre Zustimmung verweigerten, einen
gelinden Stoß erhälten, obwohl an sich eine Arbeit
mehrerer Hände an demselben Cassone nicht unge-
wöhnlich wäre. Der etwas lahme Eindruck, den die
Zeichnung der, allerdings in London ungünstig hängen-
den, „Derelitta“ dort trotz aller Großartigkeit der Erfin-
dung machte, muß aber jedenfalls schon für sich ge-
nommen veranlassen, die bisherige Zuschreibung noch
einmal zu überprüfen.
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der Tür am Hause des Maimes, da ihr Herr irmen war
und lag da, bis es licht ward.“
Hier würde die Geschlossenlieit der Ttir, die dürf-
tige Kleidung des Weibes, die, wie als Zeugen der
wilden nächtlichen Szene, verstreut hingeworfenen
Uebergewänder höchst eindringliche Bestandteile der
Schilderung bedeuten.
Eine Bestätigung dieser Deutung scheint mir nun
eine Zeichnung des hessischen Landesmuseums in
Darmstadt zu sein, welche kürzlich in „Stift und Feder“
Heft 4, Januar 1930 Nr. 75/76 reproduziert und von Karl
Freund beschrieben wurde (s. Abb.). Diese weiß ge-
hö'hte und getuschte Federzeichnung (232 : 363 mm),
also in der Höhe fast genau die Hälfte der „Derelitta“
messend, wird dort als „Unterer Teil einer Herabkunft
des heiligen Geistes“ publiziert und der Botticelli-
Schule zugeschrieben, während Schönbrunner-Meder
„Handzeichnungen aus der Albertina“ Nr. 578 sie noch
für Botticelli selbst in Anspruch nahmen.
Sieben Männer stehen vor einer Palastfront mit um-
laufender Bankstufe, welche die ganze Breite der Dar-
stellung einnimmt. Zwei; von ihnen scheinen die in der
Mitte befindliche geschlossene Doppeltür mit Gewalt
eindrücken zu wollen, die anderen blicken, den Mund
geöffnet, mit lebhaft fordernden Handbewegungen nacli
oben, als ob sie einer dort — außerhalb der Dar-
stellung — zu denkenden Person zuriefen. Der Ober-
körper eines achten ähnlich gestikulierenden Mannes
wird unten vor einer zu der Palastfront heraufführen-
den Stufe sichtbar.
Die Anzahl und die Gesten der Männer, der Schau-
platz, der kaum als Saal zu deuten ist, das Fehlen der
„feurigen Zungen“, die Bedeutsarnkeit der geschlosse-.
nen Tür, die Tracht der Männer, die zuin Teil Turbane
oder Hüte tragen, wie es wohl ftir heidnische oder alt-
testamentliche Personen, nicht aber für die Apostel
tiblich ist, scheint mir eine Deutung der Szene als einer
Ausgießung des heiligen Geistes entgegenzustehen. Die
oben erwähnte Geschichte von der Frau des Leviten
hingegen dürfte eine zwanglose Deutung der Zeichnung
geben. Diese aufgeregt gestikulierenden Männer sind
alles andere als heilige Apostel: es sind die „bösen
Buben“ aus Gibea, die an der Tür des alten Mannes
pochen und die Herausgabe des Leviten fordern. Als
solche ist ihre Kleidung, ihr Bestürmen der geschlosse-
nen Tür, ihr nach oben Rufen und Deuten ohne wei-
teres erklärlich.
Es würde dann unsere Zeichnung zu einem zweiten
Bilde der geforderten Folge gehören, in welche die
„Derelitta“ gehört, die ja auch nicht nur im Thema, son-
dern auch in der formalen Gestaltung mit dem Bild-
abschluß durch eine nahe an die vordere Elildzone ge-
rückte Mauer — sie setzt beidemale etwa in V3 Bild-
höhe an — engen Zusammenhang zeigt. Ob dem Um-
stand, daß sowohl hier wie dort eine geschlossene Tür
inhältlicher und kompositioneller Mittelpunkt der Szene
ist, tiefere Bedeutung zukommt? Etwa Jungfern-
schaftssymbolik?
Schubring (Cassoni S. 120) scheint für die
„Derelitta4 nicht eine Verwendung als eigentliches
Truhenbild anzunehmen, sondern als eines Einsatzbildes
in ein anderes Möbel oder eine Zimmertäfelung. Da
jedoch das Höhenmaß der „Derelitta“ (47 cm) durcli-
aus dem eines Cassonebildes entspricht, könnte ich mir
sehr wohl denken, daß sie, entweder als Seitenstück,
oder mit der Szene der Darmstädter Zeichnung und
einer dritten aus derselben Geschichte zusammen die
Vorderwand einer Truhe eingenommen und sich dort
auf der linken Seite befunden habe. In diesem Zu-
sammenhange und in dieser Verwendung würde die
Botticelli, La Derelitta
„Derelitta“ viel von ihrer befremdenden inhaltlichen
Modernität verlieren.
Unsere Zeichnung wird, wohl mit Recht, der
Botticelli-Schule, nicht dem Meister selbst zugeschrie-
ben. Vielleicht könnte dann auch die Bestimmung der
„Derelitta“ auf Botticelli, die zuerst Venturi 1896 in dcn
„Tesori d’Arte inediti in Roma“ gab, der aber Crowe
und Cavalcaselle ihre Zustimmung verweigerten, einen
gelinden Stoß erhälten, obwohl an sich eine Arbeit
mehrerer Hände an demselben Cassone nicht unge-
wöhnlich wäre. Der etwas lahme Eindruck, den die
Zeichnung der, allerdings in London ungünstig hängen-
den, „Derelitta“ dort trotz aller Großartigkeit der Erfin-
dung machte, muß aber jedenfalls schon für sich ge-
nommen veranlassen, die bisherige Zuschreibung noch
einmal zu überprüfen.
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