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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,2.1902

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Heft 14 (2. Aprilheft 1902)
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Erdmann, Karl Otto: Sprechsaal: noch einmal: "Tendenzpoesie"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8191#0090

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denen Bedeutungen in einem Atemzuge mit jeuer Unbefangenheit und
naiven Unlogik, die den unterhaltenden Plauderer und anregenden Feuille-
tonisten ziert. Begueme ich mich aber der Terminologie an, wie sie
Bonus in seinem Aufsatze vertritt, verstehe ich also unter Tendenz den
Ausdruck einer starken — vielleicht ganz subjektiven einseitigen partei-
ischen — Ueberzeugung, die ganz naturgemäß den Willen in sich schließt,
ihr wenigstens zum m o r a l i s ch e n Siege zu verhelfen, nun so finde
auch ich beim besten Willen keinen Grund, warum eine Poesie zu ver-
werfen sei, lediglich weil sie eine solche Tendenz hat. Und das gilt auch
daun, wenn diese Tendenz politischer oder sozialer Natur ist und mit
aktuellen Tagesfragen in Verbindung steht, was ja als besonders an-
rüchig gilt. Richtig ist es freilich, daß es wohlfeiler ist, mit Stoffen
dieser Art äußere Erfolge zu erzielen, und daß mancher vornehm
denkende Künstler es schon aus diesem Grundc vorzieht, „unzeitgemäß"
zu sein. Auch ist es ja gewiß schwieriger, den künstlerischen Wert aus-
gesprochener Tendenzwerke dieser Art zu bemessen. Wie viele Dichtungcn
erscheinen einer neuen Generation ungenießbar, wenn das Jnteresse am
Stoffe verraucht ist! Uebcrdauert aber ein Werk dieser Art die Erfolge
des Tages, gelingt es ihm, auch einem späteren Geschlecht wieder lebendig
zu machen, was ein ülteres bewegte, dann kann man es sichcr kein
wertloses Machwerk nennen. Jch bekenne auch gern, so altmodisch zu
sein, Dramen von der Art der „Hochzeit des Figaro" von Beaumarchais
für gute Stücke zu halten.

Es liegt eine ganz seltsame Psychologie der Meinung zugrnnde,
als könne ein Künstler beim Schaffen alle seine politischen und sozialen
Ueberzeugungen oder seine sonstigen Jdeale ablegen wie einen Rock und
plötzlich einer gottähnlichen Objektivität und Unparteilichkeit teilhaftig
werden. Auch gestehe ich, orakelhafte Aussprüche, wie: „Tendenzpoesie
verstößt gegen das Gesetz der Objektivität in der Kunst," sür eitel Hum-
bug zu halten. Hat schon irgend jemand ein Gesetz der Objektivität
klar sormulieren hören? Jn der Lyrik hat ja Objcktivität überhaupt
wenig Sinn; und es ist nur selbstverständlich, daß Kampflieder oder
religiösc Gesänge, wie sie Bonus erwühnt, trotz der Ungerechtigkeiten
und objektiven Unwahrheiten, die sie enthalten mögen, doch echt em-
pfundene und gute Gedichte sein könncn. Auch beim Roman oder beim
Drama ist die Forderung nach Objektivität nur mit großen Einschrün-
kungen zu stellen und sehr onni Arano 8a1i8 zu verstehen. Ein Satz
wie der, daß im Drama von zwei einander bcfehdenden Parteien beide
in ihrer Art „Recht haben" müßten, enthält zwar einen Kern Wahrheit,
nber allgemeingiltig kann auch er nicht genannt werden. Und wenn
Shakespere in seinem Heinrich V. seine Land^leute mit ciner Fülle von
Liebe zeichnet, alle Franzosen aber als lücherliche Prahlhünse oder Trottel
darstellt — nun so bekenne ich, in diescr krüftigen Naivität noch keine
Sünde wider den heiligen Geist der Kuiist sindcn zn können oder einen
Anlaß, Heinrich V. unter die schlechten Stücke zu zählen.

Die Behauptung, Tendenzkunst — immer in unserem allgemeinen
Sinne — sei Afterkunst, gehört zu jenen einseitigen und mißverständ-
lichen Sätzen, wie etwa: „Kunst hat mit Moral nichts zu schaffen,"
„alles Jnteresse am Stoff ist verwerflich," „es kommt nur auf das
Wie, niemals auf das Was an" u. s. f. Sie werden dadurch nicht

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